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Kap.1.10 Fastenbrechen#
Guten Abend, Crew,“ begann Misha mit ruhiger, fester Stimme, die über die Lautsprecher des Schiffscom hallte. Elsbeth stand in der Kombüse, als sie von der Nachricht in ihrer Arbeit unterbrochen wurde. Das war eher ungewöhnlich, normalerweise meldete sich Misha über das Neuralcom. Dann bekam sie von den Nachrichten nichts mit, weil sie über kein Neuralcom verfügte.
„Ich weiß, die letzten Stunden waren nicht einfach, und jeder von uns hat seinen eigenen Weg gefunden, mit der Situation umzugehen. Aber heute Abend möchte ich, dass wir für einen Moment zusammenkommen – als Mannschaft. Die letzten Ereignisse haben uns auf eine harte Probe gestellt, aber wir sind noch hier. Wir sind noch zusammen. Also, nehmt euch einen Moment, atmet tief durch und lasst uns gemeinsam eine Pause finden. In einer Viertelstunde gibt es unser gemeinsames Essen. Wir fangen nicht an, bis alle da sind – diesmal wirklich alle. Bis gleich.“
Elsbeth hatte sich bereits viel früher als die anderen in der Messe der Thjodhild eingefunden. Die letzten Stunden waren von flüssiger Nahrung geprägt gewesen. Auch die Getränke, die die Crew nach dem Torpor zu sich nehmen durfte, waren genau abgemessen. Der Körper musste sich erst wieder an den normalen Stoffwechsel anpassen. Doch heute Abend war der Wendepunkt: Die erste feste Mahlzeit nach dem Torpor, wenn auch noch leicht und schonend, fühlte sich wie eine wohlverdiente Belohnung an.
Noch bevor jemand anders daran gedacht hatte, sich um das Essen zu kümmern, war sie in die Gewächshäuser gegangen, um frisches Gemüse, Obst und Kräuter zu holen. Sie hatte schon immer Freude daran gehabt, leckere Speisen zuzubereiten, und ihre Familie hatte ihre Kochkünste stets gelobt. Keiner aus der Mannschaft schien sich für das Kochen zu interessieren; üblicherweise übernahmen Leifs Roboterassistenten diese Aufgabe. Nicht schlecht für Roboter, fand Elsbeth, aber ein Mensch, der mit Liebe und Hingabe kochte, konnte noch mehr erreichen – das wollte sie heute beweisen. Ein Hauch von Hoffnung mischte sich mit der Entschlossenheit in ihr. Es war nicht nur das Kochen. Es war die Chance, sich als wertvolles Mitglied der Crew zu zeigen, eine Rolle zu finden, die mehr war als das, was andere über sie dachten.
Die Crew traf sich pünktlich in der Messe. Als Elsbeth als Letzte aus der Kombüse kam, die Schürze ablegte und sich ruhig hinsetzte, spürte sie die erstaunten Blicke der anderen auf sich. Offenbar hatten sie nicht damit gerechnet, dass sie das Kochen übernommen hatte. Ein unangenehmes Kribbeln durchzog sie, gemischt mit einer leisen Hoffnung. Würde es ihr gelingen, sich ihren Platz in der Crew zu erkämpfen?
Der Kommandant erhob sich und begann zu sprechen. Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf ihn.
„Danke, dass ihr pünktlich seid. Auch wenn es uns heute vielleicht nicht nach Feiern zumute ist, sollten wir das traditionelle Essen nach dem Torpor genießen und die Stärke unserer Gemeinschaft spüren. Eine kleine Regel für die Tischgespräche: Lasst uns, wenn möglich, die belastenden Themen außen vor lassen. Konzentriert euch auf positive und entspannte Gespräche. Morgen früh treffen wir uns zur Besprechung, um die Ergebnisse unserer Gedanken durchzugehen und den nächsten Schritt zu planen. Aber bis dahin: Lasst uns versuchen, ein wenig mehr Gelassenheit zu finden. Schaffen wir das?“
Der Kommandant ließ seinen Blick über die Runde schweifen, und die Crew nickte ihm zustimmend zu.
Als alle sich erheben wollten, um sich Essen aus der Ausgabe zu holen, hielt Elsbeth sie zurück. „Bitte bleibt sitzen. Ich habe das Essen selbst gekocht. Natürlich habe ich mich mit Leif abgestimmt, um sicherzustellen, dass es nach dem Torpor bekömmlich ist. Lasst euch von mir bedienen und überraschen. Zuerst gibt es einen leichten Salat aus frischen Zutaten und frisch gepressten Obstsaft, danach Kürbissuppe nach meinem eigenen Rezept und zum Abschluss Vanillemilchreis.“
Elsbeth war sich unsicher, wie die Crew ihre Initiative aufnehmen würde, also ging sie eilig zur Ausgabe und verteilte die vorbereiteten Speisen vor den erstaunten Augen der Anwesenden. Die anderen warteten höflich, bis auch Elsbeth ihr Essen vor sich hatte und sich wieder an ihren Platz setzte.
Keiner begann zu essen. Die Blicke wanderten fragend durch die Runde und blieben schließlich beim Kommandanten hängen. „Elsbeth“, sagte dieser mit einem leichten Lächeln, „nachdem du dir so viel Mühe gegeben hast, wäre es nur richtig, wenn du das Essen mit einem Trinkspruch eröffnest.“
Elsbeth dachte: ‘Was, ich? Was soll ich jetzt sagen? Etwas Kluges oder etwas Lustiges?‘
Sie runzelte die Stirn und nahm ihr Saftglas in die Hand, um Zeit zu gewinnen. Schließlich sagte sie: „Keine Ahnung, was ich jetzt sagen soll.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Auf das Leben und das Neue, das jeder Tag bringt. Zusammen schaffen wir alles, was kommt.“ Sie prostete allen zu, und das Essen begann.
Zu Beginn nahm sich die Crew wirklich Zeit, den Salat und die Suppe zu genießen. Das Wenige, was zwischen den Bissen gesagt wurde, drehte sich nur um das körperliche Befinden der Crew und was sie bisher gemacht hatten. Erst beim Nachtisch wurden die Gespräche lebhafter und intensiver.
In Elsbeth war Unbehagen aufgestiegen, seit Misha angekündigt hatte, er wolle mehr über ihr Leben erfahren. Sie sprach deshalb kaum und nahm nur das Lob ihrer Gefährten für das Essen entgegen. Es gab Teile ihres Lebens, die nicht als Tischgespräch geeignet waren. Hätte sie sonst mit den anderen so viel gesprochen – als Außenstehende?
Kiyoe lobte sie: „Das Essen war großartig! Hast du früher oft gekocht?“
„Na ja, ich habe fünf Kinder großgezogen, da muss man sich als Mutter schon etwas einfallen lassen.“
„Der Vater war sicher auch nicht unglücklich darüber.“, meinte Moss.
„Mein erster Mann schon, aber mein letzter Lebensgefährte nicht so sehr. Der war eher an flüssiger Nahrung interessiert.“ Elsbeth sprach es mit einer solchen Betonung, dass jedem sofort klar war, dass sie Alkohol meinte.
Moss fragte: „Und wie bist du ins All nach Jupiter gekommen? Mit fünf Kindern noch dazu?“
„Zuerst nur mit den drei Kindern von meinem ersten Mann. Wir lebten damals auf dem Mars in der Exklave der westlichen Gemeinschaft, bevor diese selbstständig wurde. Mein Mann war Energietechniker und ist leider bei einem Unfall ums Leben gekommen. Danach blieb ich auf der Jupiter-Station und habe meinen zweiten Mann kennengelernt und zwei weitere Kinder bekommen.“
Angelique fragte: „Das muss furchtbar für dich gewesen sein. Es war sicher nicht leicht, ohne deinen Mann die Kinder großzuziehen. Wie hast du das alles neben deiner Arbeit geschafft? Und was hast du auf der Station eigentlich gemacht? Es gibt im All kaum Familien mit so vielen Kindern.“
Genau diesen Verlauf des Gesprächs hatte Elsbeth befürchtet. Aber vielleicht konnte sie es noch in eine bessere Richtung lenken. „Ich war Reinigungsfachkraft, oder wie ich es nenne, eine Putze. Mein zweiter Mann war Operateur für Lebenserhaltungssysteme – aber die meisten bezeichneten ihn einfach als Weltraumklempner.“
Kiyoe blickte verwirrt drein. „Aber was hast du gelernt? Ich habe eine Zeit lang im Human-Ressource-Management für Astrowissenschaftler gearbeitet, und soweit ich weiß, wurden nie ausschließlich für Reinigungsarbeiten zuständige Kräfte für die Siedlungen der Außenwelten rekrutiert. Klar, wir mussten manchmal selbst putzen, aber das meiste erledigten Putzroboter. Bitte sei mir nicht böse, Elsbeth, aber bei der Auswahl von Stationsmitgliedern muss doch jeder eine akademische Laufbahn oder mindestens eine Ausbildung vorweisen können.“
‘Mist’, dachte Elsbeth, ‘das ging schief. Vielleicht schlucken sie das hier.’ Laut sagte sie: „Ich hatte ein paar Gönner und war mehr für die gesellschaftliche Unterhaltung auf der Station zuständig. Ab und zu habe ich auch gekocht.“ Innerlich seufzte sie – ‘Oh, das kauft mir keiner ab. Dafür sind die viel zu clever.’
Kiyoe sprach ihre Gedanken laut aus: „Merkwürdig! Wo gibt es denn heute noch hauptberufliche Köche? So etwas gab es doch nur früher. Heute kochen, wenn überhaupt, Roboterassistenten. Meistens wird das Essen doch von den KI-Fabrikatoren gedruckt. Entertainerin warst du auch nicht, es gibt nur sehr wenige, und die kenne ich.“
Alle außer dem Kommandanten und Lu sahen Elsbeth fragend an.
Als Elsbeth zögerte, übernahm Lu das Gespräch. „Wir sollten sie jetzt nicht so ausfragen. Wir haben noch genug Zeit, einander besser kennenzulernen.“
Kiyoe sah Lu erstaunt an.
Elsbeth schlug die Augen nieder und sagte resigniert: „Danke, Lu, dass du mich schützen willst, aber irgendwann kommt es sowieso raus. Warum also nicht jetzt? Ich bin …“
Bevor sie weitersprechen konnte, mischte sich Misha ein: „Elsbeth war früher Prostituierte, ihr Fachgebiet ist also die Sexarbeit. Übrigens war sie ziemlich bekannt – im Erdorbit und auf dem Mars fast berühmt dafür.“
Elsbeth sah den Kommandanten dankbar an. „Das haben Sie schön ausgedrückt, Kommandant, danke. Aber ganz ehrlich, ich sage lieber, was ich wirklich war – eine Hure.“
Kiyoe blickte überrascht, Moss hob die Augenbrauen, und Angeliques Gesicht zeigte deutliche Missbilligung, wenn nicht sogar Ekel. Nur Qaaqqu lächelte weiterhin, vielleicht etwas mitfühlender als zuvor.
Entsetzt sagte Angelique: „Ich hatte gehört, dass es so etwas sogar auf den Außenstationen geben soll, aber geglaubt habe ich es nicht. Wie kann man denn im All zu so etwas werden? Wie lange machst du das schon?“
Elsbeth straffte die Schultern. „Angelique, das ist das älteste Gewerbe der Welt, und wahrscheinlich auch das Letzte. Du kannst die Nase darüber rümpfen, aber im Kern bleibt der Mensch, was er schon immer war – ein Wesen, das von seinen Trieben gesteuert wird. Ohne das gäbe es keine Überbevölkerung auf der Erde.“
Angelique entgegnete aufgebracht: „Ja, klar, aber doch nicht für Geld! Das ist einfach verwerflich.“
Elsbeth seufzte. „Das ist bei Weitem nicht das Verwerflichste. Ich war froh, wenn ich dafür wenigstens Geld bekommen habe. Meine Mutter hat mich auf der Erde schon mit elf Jahren an meinen ersten Freier verkauft. Geld habe ich dafür nie gesehen, aber wir hatten ein paar Tage etwas zu essen und wurden nicht aus dem Loch geschmissen, in dem wir hausten.“
Die Blicke der anderen waren entsetzt, als Elsbeth fortfuhr: „Meine Mutter war eine gute Mutter. Sie hat mir alles beigebracht, was ich wissen musste, um zu überleben, selbst unter den schlimmsten Umständen. Und sie hat dafür gesorgt, dass ich nicht für immer im Dreck hausen musste. Klar, ich habe keine besonders hohe Schulbildung, aber sie hat mir beigebracht, wie ich die Lust der Menschen für mich nutzen kann. Mit siebzehn hat sie mich an ein Edelbordell im Erdorbit verkauft. Dort ging es mir wesentlich besser als auf der verdammten Erde. Im Orbit lebte ich wie im Paradies, verglichen mit dem Elend unten.“
Nach einem kurzen Moment der Stille fragte Lu neugierig: „Dass du viele Jahre im Erdorbit als Prostituierte gearbeitet hast, haben Misha und ich auch herausgefunden. Aber wie bist du dann zum Mars gekommen? Da liegt eine Lücke von mehreren Jahren in deinem Lebenslauf. Scheinbar gibt es dazu Informationen, aber wir waren nicht befugt, darauf zuzugreifen. Was ist da passiert?“
„Ich wurde betäubt und in die Bergwerksminen des Asteroidengürtels verschleppt. Kein Wunder, dass ihr dazu keine Informationen finden konntet.“ Elsbeths Stimme verhärtete sich, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Es gibt menschliche Abgründe und Grausamkeiten, gegen die selbst die Erde meiner Kindheit ein lieblicher Ponyhof war. Die Mächtigen interessiert nur eines: die Ressourcen der Asteroiden. Auf den Asteroiden der großen Konzerne ist das Leben schon hart, und der Einfluss der Behörden ist kaum zu spüren. Aber es gibt auch viele kleine private Bergwerksasteroiden, ohne jede Ordnung und völlig ohne Kontrolle. Die Mächtigen brauchen die Rohstoffe, die sonst niemand abbauen will. Also schaut man weg.“ Ihre Miene wurde bitter, als sie fortfuhr: „Davon kommt nichts, darf nichts an die Öffentlichkeit gelangen.“
Moss sprach die Frage aus, die allen auf der Zunge lag: „Was ist dir dort widerfahren? Und wie hast du es geschafft, da herauszukommen?“
Elsbeths Stimme war ernst: „Das werde ich euch jetzt nicht erzählen. Und glaubt mir, ihr wollt es auch nicht wissen.“
Sie war sich bewusst, dass sie diesen Teil ihrer Lebensgeschichte jetzt nicht erzählen würde. Diese Erlebnisse gehörten einer anderen Welt an, und die hatte sie aus ihrem bewussten Denken verbannt. Nur nachts, wenn die Träume kamen, war sie immer noch dort.
Nach einigen Momenten des Schweigens beendete Misha das Gespräch. „Gut. Ich denke, das reicht erst einmal. Danke, Elsbeth, dass du so offen zu uns warst. Lasst uns den offiziellen Teil des Abends beenden. Ihr seid sicher alle noch müde. Gönnt euren Körpern die nötige Ruhe nach dem Torpor. Kurz noch zum Tagesplan für morgen: Nach dem Frühstück machen wir Frühsport mit Kiyoe. Auch du, Elsbeth. Ich weiß, das Training fällt dir schwer, aber du bist jetzt Teil der Mannschaft. Gewöhne dich an unsere Abläufe. Kiyoe hat versprochen, uns nicht so hart ranzunehmen. Danach möchte ich mit euch besprechen, wie es weitergehen kann. Wir müssen unsere Zukunft planen.“
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Kap.1.11 Elsbeth blinder Passagier