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Kapitel

Kap.1.11 Elsbeth blinder Passagier#

05.05.2138
Elsbeth war in der Schiffsküche der Thjodhild beschäftigt, um sich einen genauen Überblick über die Lebensmittelvorräte zu verschaffen. Die Treibhäuser lieferten eine große Vielfalt an Nutzpflanzen, die die Crew ernährten. Daneben produzierten Bioreaktoren eiweißhaltige und fleischähnliche Nahrungsmittel – sowohl als frische Produkte als auch tiefgefroren. Zusätzlich waren zahlreiche Fertiggerichte eingelagert, die entweder beim Start an Bord gebracht oder während des Flugs zubereitet wurden.

Elsbeth fragte Leif Löcher in den Bauch – den er nicht hatte – über sämtliche Nahrungsmittel, ihre Mengen und ihren Anbau. Kommandant Ivanir hatte ihr großzügig alle Zugriffsrechte auf die Nahrungsmittelerzeugung gewährt, als sie darum gebeten hatte. Anfangs zögerte er, doch sie konnte ihn schnell davon überzeugen, dass sie so am nützlichsten sein würde. Seine einzige Bedingung war, dass sie eine Schulung von Leif über die hoch technisierte Lebensmittelerzeugung absolvierte. Elsbeth nahm das Angebot begeistert an. Obwohl sie sich in der Zubereitung von Lebensmitteln auskannte, war ihr die automatisierte Produktion der Nahrung auf der Thjodhild neu.

Ihre alte Reserviertheit gegenüber künstlicher Intelligenz und deren Assistenten machte es ihr jedoch anfangs nicht leicht. Leif war kein einfacher, dämlicher Putzroboter, wie sie es gewohnt war. Jetzt war sie es, die von einer KI unterwiesen wurde. Leif war weitaus fortschrittlicher als jede Maschinenintelligenz, die ihr je begegnet war. Also riss sie sich zusammen, blieb freundlich und behielt ihre Flüche im Kopf.

Nach allem, was Elsbeth wusste, waren KIs mit eigenem Bewusstsein streng verboten. Eine KI wie Leif war ihr nie zuvor begegnet, und sie hatte nicht erwartet, jemals mit einer derart fortschrittlichen Technologie zu arbeiten. In der modernen Zivilisation galt die allgemeine Überzeugung, dass KIs verflucht seien – sie hätten diese in den Dritten Weltkrieg 2040 gestürzt und die Menschen zu unvorstellbaren Gräueltaten getrieben. Elsbeth erinnerte sich daran, wie verächtlich sie selbst früher über maschinelle Intelligenz gedacht hatte.

Bewusste KIs galten lange als der Fluch der Technik und waren vollständig verboten gewesen. Erst in den letzten Jahrzehnten hatten sie unter strengen Regularien wieder existieren dürfen, weil es sich gezeigt hatte, dass sonst die technologische Entwicklung zu stark eingeschränkt worden wäre. Doch Verstöße wurden immer noch rigoros geahndet, manchmal wurden Verstöße sogar mit Gewalt gegen Regierungen bestraft, die diese Regularien zu locker auslegten, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Doch was war mit Leif? Elsbeth staunte über seine Einfühlsamkeit und die fast menschliche Empathie, die er zeigte. Er war stets höflich, zuvorkommend und bemerkenswert geduldig mit ihrer Unwissenheit. Sie konnte sich mit ihm unterhalten, als wäre er ein Mensch. Sogar humorvolle Bemerkungen machte er mit. Er war das Gegenteil von den „dummen“ Robotern, die sie bisher gekannt hatte. Mit der Zeit musste sie sich eingestehen, dass sie Leif sogar mochte – eine völlig neue, fast beunruhigende Erfahrung für sie.

Als Elsbeth Stimmen aus der Messe hörte, legte sie ihre Arbeit beiseite. Sie sehnte sich nun doch nach Gesprächen mit echten Menschen – nicht mit künstlichen Gesprächspartnern, die sie schwer einschätzen konnte und die sie nur verwirrten. Also ging sie in Richtung Messe, wo Moss und Qaaqqu an einem Tisch saßen. Beide hatten sich Getränke genommen und unterhielten sich über ihre Arbeit.

Sie waren in ein Gespräch vertieft, sodass Elsbeth unschlüssig lauschte. Sie war sich nicht sicher, ob sie stören sollte.

Qaaqqu erklärte gegenüber Moss: „Ich glaube nicht, dass wir beim Vorbeiflug am Pluto wirklich nennenswerte Untersuchungen anstellen können. Wir sind viel zu schnell unterwegs, und die wichtigsten Beobachtungen wurden schon lange gemacht.“

Moss erwiderte: „Nein, auf keinen Fall! Ich bin nicht bereit, einfach so an Pluto vorbeizuziehen. Immerhin war Pluto für uns beide ein lang ersehnter Traum. Und wenn ich mich schon von diesem Traum verabschieden muss, dann will ich so viel mitnehmen, wie es nur geht.“

Qaaqqu seufzte tief und wollte gerade etwas erwidern, als er Elsbeth abwartend stehen sah. „Wir können ja …“ Er schaute ihr freundlich entgegen. „Hallo, Elsbeth. Was hast du in der Schiffsküche gemacht? Willst du uns wieder mit etwas überraschen?“

Moss drehte sich um. „Hey, setz dich doch zu uns.“

Elsbeth stockte einen Moment, ihre Finger spielten nervös an ihrem Ärmel. Zögerlich trat sie einen Schritt näher, doch die Unsicherheit war ihr anzusehen. „Ich möchte euch nicht in eurer Arbeit stören, ich fürchte, davon verstehe ich nichts.“

Qaaqqu lächelte. „Dafür aber umso mehr vom Kochen. War ein tolles Essen gestern Abend.“

Moss winkte ab. „Setz dich. Wir kommen sowieso nicht wirklich weiter.“

Elsbeth ließ sich an der Front des Tisches nieder und fragte, während sie ihre Hände im Schoß faltete: „Was trinkt ihr?“

„Ach, nur grünen Tee. Leif meint, das würde unserem Magen guttun. Soll ich dir auch einen holen?“, fragte Moss.

Elsbeth verzog das Gesicht. „Nö, ich hätte lieber einen richtigen Drink, aber das gibt es wohl noch nicht.“

Jetzt war es an Qaaqqu das Gesicht zu verziehen, sagte aber nichts.

Moss übernahm das Reden für ihn: „Qaaqquu hier trinkt keinen Tropfen Alkohol. Das würde seine Ahnen verärgern.“

Qaaqqu ließ sich von Moss’ Grinsen nicht beirren; diese Art von Anspielungen war er schon lange gewohnt. „Ja, es hat mit meinen Ahnen zu tun, aber verärgert wären sie sicher nicht. Mein Vater hat sich zu Tode getrunken. Seitdem kann ich Alkohol nichts abgewinnen. Mir geht’s auch ohne gut.“

Elsbeth nickte bedauernd. „Oh, das tut mir leid.“ Sie sah ihn mitfühlend an, doch dann zog sie die Stirn kraus und sagte schnell: „Ich meine, das mit deinem Vater. Nicht, dass du keinen Alkohol trinkst.“

Dann fügte sie hinzu: „Da bin ich leider schwach. Es ist ein Laster, das ich einfach nicht loswerde, obwohl es mich immer wieder in unangenehme Situationen bringt. Genau genommen ist es sogar der Grund, warum ich überhaupt auf der Thjodhild gelandet bin.“

Neugierig sah Moss sie an. „Erzähl, wie kam es dazu? Misha hat uns schon ein wenig erzählt, aber nicht wirklich ausführlich.“

Elsbeth seufzte. „Na ja, so toll war das echt nicht, eigentlich eher ziemlich peinlich.“

Qaaqqu lächelte sie an. „Ich fürchte, wir werden noch sehr lange zusammen sein. Früher oder später kommen alle Peinlichkeiten unseres Lebens ans Licht. Wir werden solche Geschichten brauchen, sonst wird uns die Langeweile auffressen.“

Elsbeth sah die beiden Männer prüfend an, während sie ihre erwartungsvollen Blicke spürte. „Na gut, bringt ja nichts. Wollt ihr die Kurzform oder das ganze Drama?“ fragte sie resigniert.

Moss grinste und meinte sarkastisch: „Ach, wären wir doch nur auf einer unendlichen Reise, irgendwo im Nichts, wo wir nichts haben außer uns selbst und unseren Geschichten.“

Elsbeth lachte. „Also, es war einmal eine Mutter mit fünf Kindern. Die meisten waren schon erwachsen und aus dem Haus, bis auf das letzte. Das hing immer noch an ihrem Rockzipfel, obwohl es schon zweiundzwanzig Jahre alt war. Der Junge war träge und verwöhnt, hatte immer noch keine anständige Arbeit und fiel allen zur Last, besonders seiner Mutter.“

Qaaqqu grinste: „Oh, ich liebe Märchen. Bitte, erzähl weiter.“

Elsbeth schüttelte den Kopf. „Ich bin keine gute Märchenerzählerin, und Märchen enden immer gut, oder? Aber ich fürchte, dieses hier nicht.“

Sie drückte ihre Lippen zusammen. „Ich sag’s mal direkt: Als ungelernte Reinigungsfachkraft verdient man nicht viel.“

Moss gab sich erstaunt: „Ich dachte … also, du hattest vorhin erzählt, ähm … dass du deinen Lebensunterhalt anders verdient hast.“

Elsbeth gluckste. „Ja, ja, sieh mich an, ich bin längst nicht mehr so jung, dass die Kerle mir noch reihenweise hinterherlaufen. Da muss frau sich schon mal nach einem anderen Broterwerb umsehen.“

Moss schmeichelte: „Also, ich finde, du siehst immer noch attraktiv aus. Reifer und mütterlicher vielleicht, aber trotzdem sehr hübsch.“

„Danke für die Blumen“, meinte Elsbeth schnippisch und sah den beiden Männern in die Augen. Damit kannte sie sich aus. In ihrem Leben hatte sie gelernt, Männer schnell einzuschätzen, das war überlebenswichtig für sie gewesen.

Es gab viele verschiedene Männer, ungefährliche und gefährliche. Bei diesen beiden war sie sich sicher, dass sie zu den Ungefährlichen gehörten. Sie erkannte den Glanz in Moss’ Augen, diesen besonderen Blick. Er war ein Lebemann, immer offen für ein Abenteuer, aber ohne Bindungsabsichten. Nun gut, dachte Elsbeth, auf dieser Reise würde sie zumindest sexuell nicht zu kurz kommen.

Qaaqqu war anders. Auch er nahm sie als Frau wahr, aber da war etwas in seinem Blick. Sie war sich nicht sicher, was es war, doch sie spürte, dass sexuell nichts zwischen ihnen passieren würde. In seinen Augen brannte etwas – eine Art tiefes Ziel, dem alles in seinem Leben untergeordnet war, selbst die einfachsten Bedürfnisse wie Sex.

Sie fuhr fort: „Mein jüngster Sohn fraß mir den Kühlschrank leer und brachte kaum Geld nach Hause. Also ging ich immer wieder zu meinem Ex-Mann, um ihn um Geld zu bitten. Seine neue, junge Frau fand das aber gar nicht gut und setzte ihm ordentlich zu. Lange Rede, kurzer Sinn: Es kam zu einem großen Krach, und ich hatte immer noch kein Geld. Also musste ich mehr arbeiten und fing an, Doppelschichten zu machen.“

Sie nahm einen tiefen, resignierten Atemzug: „Kurz vor dem Start der Thjodhild machte ich mit meiner Roboterkolonne die Endreinigung. Das lief eigentlich ganz gut, die Blechjungs waren zwar doof, aber putzen konnten sie. Ich war erschöpft und frustriert und hatte mehr Alkohol intus als sonst. Also ließ ich die Blechputzen allein weitermachen und verzog mich in eine kleine Kammer mit Putzmitteln. Dort gönnte ich mir noch eine Tüte. Ja, ich weiß, das war völlig daneben und unverantwortlich, aber ich brauchte einfach was, um runterzukommen. Ich legte mich auf frische Putzlappen für ein Nickerchen. Tja, daraus wurde dann ein ausgewachsenes Erschöpfungskoma.

Irgendwann riss mich der Antriebsdruck des Triebwerks aus dem Schlaf.“

Moss starrte sie ungläubig an: „Wie kann das sein? Was war mit Leifs Überwachung der Thjodhild? Hat dein Chef das nicht bemerkt?“

„Na ja, ich hatte die Überwachung manipuliert und die Tür damit verschlossen, damit mich keiner kontrollieren konnte. Mein Chef hatte mir gezeigt, wie das geht, wenn wir mal ungestört sein wollten. Er und ich hatten so eine … wie soll ich sagen … gegenseitige, intime Abmachung. Ich ging öfter früher nach Hause, und er hatte dafür ab und zu seinen Spaß.“ Sie grinste süffisant.

Moss und Qaaqqu tauschten einen wissenden Blick, und Elsbeth lachte leise. „Na ja, er dachte, ich wäre längst nach Hause, also hat er die Putzroboter abgezogen und uns bei der Mission Control abgemeldet. Oh Mann, der Arme hat richtig Ärger bekommen. Das tut mir wirklich leid, er war immer gut zu mir, und ich hab ihm letztlich seinen Job versaut.“

Qaaqqu runzelte die Stirn und umschloss seine Teetasse mit beiden Händen, um sich daran zu wärmen. „Aber warum hast du dich nicht sofort gemeldet?“

„Du erinnerst dich, die Thjodhild musste sich schnell aus der Anziehungskraft von Jupiter lösen, bevor ihr in den Torpor gingt. Zwei g Erdbeschleunigung war ich nicht gewohnt, also blieb ich lieber auf meinen Putzlappen liegen. Außerdem war ich feige und völlig überfordert, ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Natürlich wurde mir schnell klar, dass ich mich melden musste. Nachdem ihr auf ein g runtergegangen wart, versuchte ich panisch, meine Manipulation am Tür-Interface rückgängig zu machen. Aber vor lauter Aufregung vermasselte ich es komplett und machte es ganz kaputt.“

Qaaqqu schlürfte geräuschvoll. „Ich kann mir vorstellen, dass du da ziemlich in Panik warst. Wie hast du dich bemerkbar gemacht?“

„So ein tolles Neuralinterface wie ihr habt, kann sich eine Putzfrau nicht leisten, ich hatte nur ein einfaches Kommunikationsgerät, das ich aber einem der Putzroboter zugesteckt hatte, damit man mich nicht orten konnte. Alles ziemlich blöd gelaufen. Leif bemerkte zwar die kleine Störung am Tür-Interface, aber eine Putzkammer ist nicht wirklich wichtig für den Start. Natürlich bekam ich es mit der Angst zu tun, deswegen machte ich mit allem, was ich hatte, Lärm an der Tür. Ein metallisches Klopfen dringt in einem Raumschiff weit und das fand Leif dann doch merkwürdig. Als mich ein Assistent von Leif befreite, fiel mir ein Stein vom Herzen, aber ich hatte auch richtigen Bammel vor den Konsequenzen.“

Qaaqqu lehnte sich zurück und schüttelte langsam den Kopf. „Also, wenn ich der Kommandant gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, ob ich lachen oder weinen sollte.“

„Ihr könnt euch vorstellen, wie begeistert Ivanir und die Mission Control über mich waren. Ein Zurückfliegen und Neustart der Thjodhild wären unglaublich teuer und aufwendig gewesen. Zum Glück ist die Thjodhild groß genug und sowieso für eine größere Mannschaft ausgelegt. Na ja, den Rest kennt ihr.“

Qaaqqu grinste. „Wie dem auch sei, auf der Jupiter-Station bist du inzwischen eine Legende. Und ich muss sagen, das ist eine grandiose Story. Die wirst du sicher noch oft erzählen müssen. Solche Geschichten werden jedes Mal besser, wenn man sie wiederholt.“

Moss lachte leise und hob sein Glas in Elsbeths Richtung. „Und keine Angst, ich werde dafür sorgen, dass jeder die ungeschönte Version hört. Und in ein paar Jahren kann selbst Misha darüber lachen.“


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