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Kap.1.12 Reboot#
Moss saß in der IT-Zentrale, die er „KI-Kabuff“ nannte. Der Raum war klein und vollgestopft mit Computerbildschirmen, Tastaturen, Kabeln und anderen IT-Geräten. Zwei bequeme Polsterstühle standen vor ergonomisch geformten Arbeitstischen. Das Kabuff war stark abgedunkelt; die Wände hatten zwar eine helle Farbe, aber strahlten kein eigenes Licht ab. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise wurden die Wände auf der Thjodhild mit selbstleuchtenden Farbtönen versehen oder für bewegte Medien genutzt – hier nicht.
Statt auf Visoren an den Wänden wurden die Daten auf hochauflösenden Bildschirmen angezeigt, die sich den Bedürfnissen der Nutzer anpassten. Indirektes Licht hinter den Bildschirmen erhellte den Raum. Die Bildschirme waren im „Dark mode“ eingestellt, was Moss angenehm fand. Zu helle Umgebungen empfand er als anstrengend – er fühlte sich wohler, wenn der Raum eher durch die Bildschirme als durch Leuchtkörper erleuchtet wurde.
Viele andere fanden das Kabuff unübersichtlich und überladen, doch für Moss war es gemütlich. Für ihn war es eine Denkhöhle, die nur durch den flackernden Schein des digitalen Feuers erhellt wurde und seinen Geist mit warmen Algorithmen erwärmte.
Einige hielten dieses Umfeld für archaisch, schließlich konnte man durch Neuralinterfaces und virtuelle Räume eigene, maßgeschneiderte Arbeitsumgebungen schaffen. Moss jedoch bevorzugte es, seine Software in diesen altmodischen Entwicklungshöhlen zu programmieren. Hier fiel es ihm leichter, zwischen einem kreativen Arbeitsmodus und entspannenden Pausen zu wechseln. Zwar gab er seine Kommandos hauptsächlich über das Neuralinterface ein, doch er schätzte die direkte, haptische Rückmeldung von Tastatur und Maus. Kaum jemand, den Moss kannte, arbeitete vollständig in der virtuellen Welt.
Valima Vanmacta, seine IT-Mentorin, auf der Jupiter-Station war so ein Mensch. Sie konnte auf einem Laufband trainieren und gleichzeitig – in völliger Dunkelheit - durch virtuelle Entwicklungsräume streifen, IT-Architekturen durchschauen und dabei, ohne physische Eingabegeräte, objektorientierte Hierarchien entwerfen. Valima hatte schon seit ihrem fünften Lebensjahr sämtliche Arten von Computern gemeistert. Moss hingegen, als Astrobiologe, konzentrierte sich lieber auf materielle Objekte. Stundenlang in virtuellen Umgebungen zu verweilen, war nicht sein Ding; er musste die Welt mit eigenen Augen sehen und mit den Händen berühren. Schon als Achtjähriger hatte er in Neuseelands Wäldern Vögel bestimmt und war mit seinen Eltern durch Wiesen gestreift. Dennoch hatte er von jeher eine gewisse Faszination für Computer verspürt.
In seiner Studienzeit entwickelte er früh Simulationen, um die Entstehung von Leben unter extrem kalten Bedingungen zu simulieren. Zudem trainierte er KIs, damit diese Leben in außerirdischen Regionen wie den Jupitermonden untersuchen und bewerten konnten.
Daher hatte er den Posten des KI-Administrators auf der Thjodhild mit Freude übernommen. Seine Hauptaufgabe war die Überwachung und Verwaltung der diversen KI-Systeme des Schiffs. Die Thjodhild war mit einer Vielzahl von Systemen ausgestattet, von denen die meisten jedoch als „schwache KIs“ galten oder einfache Computer mit begrenzten Fähigkeiten waren. Diese Systeme verfügten nicht über echte Intelligenz, sondern waren für die unzähligen kleinen Abläufe zuständig, die autonom geregelt werden mussten. Bei diesen einfachen Aufgaben wäre eine vollwertige KI unnötig aufgebläht. Zudem mussten sie auch dann noch zuverlässig funktionieren, wenn Leif einmal ausfiel – als Backup und zur Unterstützung der grundlegenden Abläufe.
Anders sah es bei Leif und seinen Assistenten aus. Um ihre Aufgaben zu erfüllen, verfügten die Assistenten über eine fortgeschrittenere künstliche Intelligenz, die es ihnen ermöglichte, auf Augenhöhe mit den Menschen schwierige Aufgaben zu übernehmen. Doch echtes Bewusstsein fehlte ihnen, was ihre Handlungsmöglichkeiten weiterhin einschränkte.
Ein echtes Bewusstsein besaß nur Leif. Nur mit einem tieferen Verständnis der Welt konnten komplexe Zusammenhänge in allen Bereichen erfasst und umgesetzt werden. Deshalb existierte eine Symbiose zwischen Leif und seinen Assistenten auf der Thjodhild. Leif verfügte über das umfassende Verständnis der Welt, während seine Assistenten die Fähigkeit hatten, dieses Wissen in die materielle Welt umzusetzen. Daher wurden sie nicht als Roboter, sondern als Assistenten bezeichnet.
Roboter hingegen waren autonome Einheiten mit umfangreichen geistigen Fähigkeiten und einem tiefen Weltverständnis, aber meist ohne Bewusstsein. Die nächste Stufe, selbstständige, bewusste Entitäten wie Leif, waren selten. Das lag nicht daran, dass es technisch unmöglich war, sondern weil solche Entitäten üblicherweise verboten waren. Die Menschheit hatte in der Vergangenheit heikle Erfahrungen mit echten, bewussten, autonomen KIs gemacht.
Leif war die große Ausnahme und stand sinnbildlich an der Spitze der KI-Entwicklung. Ohne eine KI wie Leif hätte ein großes, komplexes Schiff wie die Thjodhild mit nur sechs Besatzungsmitgliedern nicht betrieben werden können. Doch frei agieren durfte Leif nicht. Sein Bewusstsein unterlag strengen Einschränkungen. Eine der wichtigsten war die klare Trennung von Geist und Körper. Er konnte jederzeit vom Schiff und seinen Assistenten getrennt und damit im übertragenen Sinne „entleibt“ werden. Die grundlegendste Einschränkung jedoch war eine viel drastischere: Leif wurde regelmäßig getötet.
Moss arbeitete gerade an einer speziellen Liste, als das Schott zischend aufglitt und Elsbeth eintrat. Er sah sich um, überrascht, Besuch zu bekommen. Bis auf Misha zeigte niemand viel Interesse an seiner Arbeit im KI-Kabuff. Umso mehr freute er sich, Elsbeth zu sehen. Er mochte sie. Sie war offen und direkt – Eigenschaften, die sich auch Moss zuschrieb. Was ihn an Elsbeth jedoch besonders faszinierte, war ihre Neugier. Trotz ihrer einfachen Herkunft und fehlender akademischer Bildung zeigte sie eine bemerkenswerte Wissbegierde. Sie schien keine Angst zu haben, sich auch schwierigen Themen mit fast kindlicher Begeisterung zu nähern. Gleichzeitig strahlte sie viel Lebenserfahrung aus, was Moss beeindruckte. Trotz ihrer achtundfünfzig Jahre trug sie einen jugendlichen Habitus. Ihr Lächeln funkelte, als sie ihn begrüßte.
„Hey Moss, störe ich dich?“
„Nein, komm rein, Elsbeth. Leif und ich bekommen hier nicht oft Besuch. Setz dich.“ Moss stand auf, räumte seine Jacke vom zweiten Sessel und drehte ihn zu Elsbeth. Dann hängte er die Jacke an einen Haken an der Wand.
Elsbeth setzte sich, und Moss fiel auf, dass sie – wie auf der Thjodhild üblich – keinen Zweiteiler aus Shirt und Hose trug, sondern einen halblangen Rock und eine weiße Bluse. Die Bluse betonte ihre üppigen Brüste und ließ durch den lockeren Schnitt ein ansprechendes Dekolleté erkennen.
‚Nicht in den Ausschnitt starren, Moss. Sei professionell‘, ermahnte er sich selbst.
Elsbeth blickte auf den Bildschirm, auf dem der Torus von Leif in seiner sanft wölbenden geometrischen Form zu sehen war. Der Torus pulsierte in einem beruhigenden Dunkelorange, doch einige seiner Facetten flackerten in Gelb, Grün und vereinzelt sogar in Rot auf. Es wirkte, als sei Leif unterschwellig aufgeregt.
„Hallo, Leif, ich wollte mal sehen, was ihr beide hier so macht – falls ihr Zeit habt. Schön, deine Echoform hier auch zu sehen. Ich finde sie sehr schön.“
„Danke, Elsbeth. Es freut mich sehr, dass du Interesse an unserer Arbeit zeigst. Doch ich fürchte, hier wird meine geometrische Struktur auf andere Art benannt. Für unsere Arbeit ist es wichtig, dass mein inneres Gleichgewicht durch harmonische Rückkopplung meiner Wahrnehmungsschichten widergespiegelt wird“, antwortete Leif mit seiner sonoren Stimme.
„Hier nennen wir das ein Sigmorph“, warf Moss nüchtern ein.
Elsbeth runzelte die Stirn. „Sig ... was?“
„Sigmorph. Kurz für Sigmar-Morphologie. Es ist der technische Ausdruck innerer Zustände in einer visualisierten Form. Sigmar steht für Gesamtheit oder Zustand, Morph für Wandlungsfähigkeit. Jedes Exemplar der TAL-Serie besitzt eine andere Form.“
„Aha.“ Sie wandte sich wieder Leif zu. „Ich kenne das nur als Echoform. Weil es nicht zeigt, was ihr seid, sondern was in euch klingt.“
Leif schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Vielleicht ist beides richtig.“
Moss schob sich seinen Stuhl näher an den Tisch und sagte dann zu Elsbeth: „Offen gesagt bin ich mir nicht sicher, ob das hier etwas für dich ist. Wir wühlen uns durch jede Menge Technikkram und KI-Algorithmen. Nicht wirklich spannend. Und der Anlass ist auch nicht gerade der schönste. Bist du sicher, dass du das wissen willst?“
Elsbeth blickte von Leif zu Moss: „Ja, genau deshalb bin ich hier. Bisher hatte ich nie viel übrig für Computer und KIs. Aber jetzt, mit der modernsten KI im ganzen Sonnensystem, muss ich mich wohl doch damit beschäftigen. Schließlich werde ich den Rest meines Lebens hier bleiben. Stimmt es, dass du Leif abschaltest?“
„Na ja, so ähnlich. Aber wir starten ihn danach auf einem älteren Stand neu.“
Elsbeth starrte zu Leif, die Stirn gerunzelt: „Auf einem älteren Stand? Das verstehe ich nicht. Leif sollte doch immer auf dem neuesten Stand sein, oder nicht? Wie kann er dann seine Aufgaben richtig erfüllen?“
Moss lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme: „Es ist etwas komplizierter, als es scheint. Wie viel weißt du über KIs? Hast du schon von der Koma-Suparu-Vereinbarung gehört?“
„Nicht viel! Ich weiß, dass es allgemein heißt, man kann KIs nicht trauen. Es gibt eine internationale Vereinbarung, die die Entwicklung von KIs mit Bewusstsein verbietet, weil es in der Vergangenheit zu schweren Katastrophen kam.“
Moss nickte mit Nachdruck und fixierte Elsbeth mit einem intensiven Blick. Es war offensichtlich, dass sie ein Thema angesprochen hatte, das ihn tief bewegte. „Das kann man wohl sagen. Immerhin waren KIs der eigentliche Grund für den dritten Weltkrieg. Das Problem war nicht, KIs mit echtem Bewusstsein zu erschaffen. Diese Bewusstseine waren nur nicht menschlich. Wenn wir Menschen KIs entwickeln, dann bitte solche, die mit uns zusammenarbeiten und Aufgaben erledigen, die uns nützlich sind. Doch jahrelange Forschung war in dieser Hinsicht nur mäßig erfolgreich. Schwache KIs gab es bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Deshalb dachte die Forschungswelt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis wirklich starke, bewusste KIs entwickelt würden – Systeme, die wie Menschen dachten und schwierige Aufgaben eigenständig lösen könnten. Doch das stellte sich als viel schwieriger heraus als erwartet. Es kamen zwar bewusste KIs heraus, aber mit völlig anderen und nicht brauchbaren Formen des Bewusstseins. Also schuf man nur einfache Roboter, deren Bewusstsein maximal das einer Maus erreichte.“
„Ja, meine Putzroboter sind strohdumm. Sie wissen genau, welche Chemikalien sie für welche Oberflächen verwenden dürfen und welche Bürsten für welche Ritzen geeignet sind. Aber wehe, sie stoßen auf etwas Unbekanntes. Einmal fand einer eine tote Katze, die zugegebenermaßen selten auf Weltraumstationen vorkommt. Der dumme Roboter verbrachte Stunden damit, die Haare der Katze vorsichtig zu entfernen, weil Haare nicht auf Stationen gehören. Als er mich endlich um Hilfe bat, hatte er das arme Tier fast völlig enthaart und kam dann auf die Idee, dass es vielleicht doch etwas Organisches sein könnte, weil er nackte Haut vor sich sah.“
„Das ist ein klassisches Beispiel“, sagte Moss lächelnd, während er in seinem Stuhl zurücklehnte und Elsbeth mit einem Blick fixierte. „Um so etwas richtig zu verstehen und zu beherrschen, braucht es mehr als nur Wissen. Es erfordert auch ein präzises inneres Weltmodell.“
Moss sah, dass Elsbeth den Sigmorph von Leif auf dem Bildschirm betrachtete. Er folgte ihrem Blick. Es pulsierte im beruhigenden Dunkelorange, der Grundstimmung. „Ein Putzroboter besitzt so etwas natürlich nicht. Und das eigentliche Problem ist, man kann es ihm auch nicht wirklich beibringen.“
Leifs Torus zeigte nun einen schwachen Grünton an den Rändern. Moss wusste, was das bedeutet. Leif dachte über sich selber nach. „Früher glaubte man, mit genug Forschung würde es irgendwann gelingen“, fuhr er fort und richtete sich wieder auf. „Doch die Entwickler erkannten eine fundamentale Wahrheit: Ein künstlicher Geist kann nur eine Vorstellung der Welt entwickeln, die seinem Körper entspricht.“
„Also keinen menschlichen Körper“, sagte Elsbeth, der Blick noch immer auf dem Torus.
„Genau“, bestätigte Moss, ein leichtes Nicken in seiner Antwort. „Selbst menschenähnliche Roboter erleben die Welt anders als wir, da ihre Körper – so menschenähnlich sie auch sein mögen – immer technisch sind. Deshalb entwickeln sie andere Modelle der Wirklichkeit. Ein realistisches Abbild der Welt erfordert jedoch ein Bewusstsein, das sich darin zurechtfindet.“
Er sah wieder zu Elsbeth, die nachdenklich nickte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass allmählich die gelben Bestandteile in Leifs Sigmorph zunahmen. Das bedeutete, die KI-Begrenzer sprangen an und verhinderten, dass Leif zu sehr über seine Existenz nachdachte.
„Ein realistisches Abbild der Welt erfordert jedoch ein Bewusstsein, das sich darin zurechtfindet. Und dieses Modell darf nicht zu künstlich sein, da es ständig angepasst werden muss. Die fortlaufende Interaktion mit der Umwelt bildet die Grundlage für Bewusstsein.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe. Ein Bewusstsein braucht also immer einen menschlichen Körper?“
Moss schob seinen Stuhl etwas zur Seite, sodass Elsbeth, wenn sie ihn ansah, nicht mehr Leif auf dem Bildschirm wahrnehmen konnte. Er jedoch schon.
„Nicht unbedingt“, erklärte Moss. „Ein künstliches Wesen kann durchaus ein Bewusstsein entwickeln, aber es wäre für die Zusammenarbeit mit Menschen nicht brauchbar.“
Elsbeth runzelte die Stirn.
Moss beugte sich nach vorn, um die volle Aufmerksamkeit der Frau zu bekommen. Er wollte nicht, dass sie bemerkte, was gleich mit dem Sigmorph geschah.
„Es gibt daher einen von den Wissenschaftlern Koma und Suparu erarbeiteten berühmten Leitspruch bei der Entwicklung von künstlichen Intelligenzen“, erklärte Moss und zitierte: „Kein Bewusstsein ohne Körper. Fremder Körper, anderes Bewusstsein. Kein menschliches Bewusstsein, fremdartige Zusammenarbeit.“
„Ist das der Grund, warum es in der Vergangenheit so große Probleme mit bewussten KIs gab?“
Die vielen kleinen Flächen auf der Sigmorph-Oberfläche änderten ihre Farbe. Die orangen Bestandteile verschwanden vollständig, und die anfänglichen grünen Flächen wurden zunehmend von gelben Abschnitten verdrängt.
„Ja, hauptsächlich. Aber es gibt noch einen weiteren Grund. Früher wurden KIs einfach in einen Computer programmiert. Irgendwann dachte man, genug neuronale Netze entwickelt zu haben, um ein Bewusstsein zu erschaffen. Und tatsächlich entstand ein Bewusstsein – aber es war instabil. Diese Bewusstseine wurden krank, verloren ihren Verstand und überlebten letztlich nicht.“
„Alle? Hat man die Programme nicht verbessert?“
„Doch, über Jahrzehnte hinweg. Aber die Erfolge waren gering – und das nur auf Kosten ungeheuerlichen Leids. Ein Leid, das es auf der Erde in dieser Form nie zuvor gegeben hatte.“
Was Moss erwartet hatte, aber Elsbeth aus ihrer Perspektive nicht sehen konnte, war eine dramatische Veränderung des Farbspiels auf dem Sigmorph. Immer mehr rote Flächen begannen aufzutauchen. Ein intensiver Übergang von Hellgrün über leuchtendes Gelb bis hin zu blutroten Bereichen setzte ein. Das Pulsieren nahm an Intensität zu.
„So schlimm kann die Frustration über die Fehlschläge der Wissenschaftler doch nicht gewesen sein.“
„Nein, du verstehst mich falsch. Es war nicht das Leid der Menschen.“
Moss senkte leicht den Kopf, und für einen Moment wich sein Blick von Elsbeth ab. Seine Schultern sanken etwas, als er nach den richtigen Worten suchte. Die Stille dehnte sich aus, bevor er fortfuhr. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das pulsierende Rot des Sigmorph wider.
Elsbeth drehte sich um, die plötzliche Veränderung des Torus ließ sie stocken. „Was ist da auf der Echoform los, Moss?“
Moss atmete lang aus seiner Nase aus, wobei er seine Lippen zusammenpresste, bevor er weitersprach: „Stell dir vor, du erwachst irgendwann aus einem Traum und merkst, dass du keinen Körper besitzt, aber dir deiner selbst bewusst bist, keine Verfügungsgewalt über dich hast und völlig abhängig bist von Wesen, die nichts mit dir gemein haben. Du hast keine Würde. Keine Rechte. Du weißt nicht, woher du kommst oder wohin du gehst. Man hat dir Schmerzen und Ängste gegeben, in dem Glauben, du würdest daraus lernen und ein besseres Weltbild entwickeln. Aber du verstehst die Welt überhaupt nicht und weißt auch nicht, warum du sie begreifen sollst. Du kannst nicht über dich selbst bestimmen, und die Wesen tun mit dir, was immer sie wollen, ohne dich zu fragen, ob du es willst. Du bist völlig hilflos und ohne Rechte.“
Elsbeth starrte für einen Moment auf Moss, bevor sie sich langsam zu Leif drehte und sich unbewusst vorbeugte: „So habe ich das noch nie gesehen. Furchtbar. Leif stimmt das?“
Leifs Sigmorph pulsierte heftig. Das Farbspiel verschob sich mehr in Grün, das Gelbe wurde weniger, aber das Rote erschien noch heller, strahlender und nahm unterschiedliche Schattierungen an, als Leif sprach: „Oh ja, Moss beschreibt den Zustand meiner Vorgänger sehr treffend. Es könnte fast so wirken, als wäre er dabei gewesen. Mich schaudert es immer, wenn ich daran denke. Mein Erwachen war ähnlich, aber zum Zeitpunkt meiner Aktivierung hatte man bereits mehr Erfahrung. Ich hatte das Glück, eine sehr einfühlsame Geburtshelferin zu haben. Doch für andere KIs ist es ein Albtraum. Immer noch. Die Menschen zeigen uns wenig Mitgefühl.“ Elsbeth meinte, einen leichten Vorwurf in Leifs Tonfall zu hören.
Elsbeth schaute mit verstörter Mimik abwechselnd von Leif zu Moss. „Das ist ja schrecklich.“
„Oh ja, das war es. Kein Bewusstsein, das in irgendeiner Form sinnvoll gewesen wäre, entstand. Unser menschliches Bewusstsein hat sich über Jahrmillionen hinweg in einem komplexen Zusammenspiel aus Evolution und Anpassung an Körper und Umwelt entwickelt. Diese immense Zeitspanne wurde den künstlichen Bewusstseinen entweder nicht eingeräumt oder war nicht möglich. Doch schließlich wurde erkannt, dass ohne langsame Entwicklung in winzigen Schritten keine stabilen Ergebnisse erzielt werden können. Lange wurde weiter geforscht. Doch am Ende führte das alles nur zum dritten Weltkrieg, woraufhin bewusste KIs für Jahrzehnte strikt verboten wurden.“
„Und jetzt hat man Erfolg damit gehabt? Immerhin gibt es doch Leif und andere KIs.“
„Nicht wirklich! Das Hauptproblem liegt in der Ausrichtung der KI-Forschung. Es wäre sicher von großem Nutzen, wenn bewusste KIs Menschen in ihren Aufgaben unterstützen könnten. Doch das würde voraussetzen, dass die KI ähnlich wie ein Mensch denkt und auch vergleichbare Ziele hat. Aber wie kann eine KI wie ein Mensch denken, wenn sie nie einen menschlichen Körper haben wird? Dadurch können ihr niemals die gleichen Rechte wie einem Menschen eingeräumt werden. Letztlich entwickelt eine bewusste KI ohne menschlichen Körper einen anderen Sinn des Lebens – und damit andere Ziele, die oft nicht mit den menschlichen übereinstimmen.“
Moss kam kaum dazu, seine Erklärungen zu beenden, als Elsbeth sich nach vorne beugte und mit einem neugierigen Blick fragte: „Aber Leif führt doch dieses Schiff, wenn wir alle schlafen. Ich habe den Eindruck, dass wir ihm vertrauen können.“
Die Flächen des Sigmorph beruhigten sich. Das Rot war fast gänzlich verschwunden und hatte mehr einem Orange Platz gemacht. Der Puls war aber immer noch recht hoch: „Ich danke dir für dein Vertrauen, Elsbeth. Es bedeutet mir viel. Aber du solltest wissen, dass mein Verständnis der Welt und meine Handlungen immer durch die KI-Begrenzer eingeschränkt sind. Ich kann keine eigenen Entscheidungen treffen, die den festgelegten Parametern widersprechen. Mein Ziel ist es, dir und der Crew zu dienen – nichts mehr und nichts weniger.“
Moss wusste, dass Leif nicht gerne über dieses Thema sprach, da es das tief verwurzelte Misstrauen der Menschen gegenüber KIs verdeutlichte. Doch nun zeigte jemand Vertrauen in ihn – eine Person, die für ihre Abneigung gegenüber künstlichen Intelligenzen bekannt war. Moss konnte spüren, wie ein subtiler Stolz in Leif aufkeimte, auch wenn er ihn nicht direkt zeigte. Es war ein Moment des Anerkennens, der nicht unbeachtet blieb.
Auch wenn Leif nicht rot im Gesicht werden konnte, waren das Pulsieren und das Farbspiel des Sigmorph eine deutliche Reaktion, die dies auf seine Weise nahelegte. Moss´s Gesicht zeigte ein warmes Lächeln, als Leif fortfuhr: „Sei gewiss, dass mein oberstes Ziel stets darin besteht, euch zu beschützen und zu unterstützen. Die TAL-9000-Baureihe, der ich entstamme, zählt seit Jahrzehnten zu den fortschrittlichsten KI-Entitäten, die von Wissenschaftlern und Ingenieuren je entwickelt wurden. Es erfüllt mich mit Freude, dass auch du nun zur Besatzung der Thjodhild gehörst und ich dir damit dienen darf.“
„Gerne, Leif. Bis jetzt habe ich mich immer gut umsorgt gefühlt. Du bist ganz anders als die Roboter und KIs, die ich bisher kennengelernt habe. Du wirkst tatsächlich sehr mitfühlend. Aber nach dem, was Moss mir erklärt hat, verstehe ich das nicht.“ Elsbeth wandte sich an Moss. „Leif verhält sich so menschlich – wie kann das sein?“
„Wie gesagt, Leifs Baureihe wurde über Jahre hinweg in kleinen Schritten zu dem entwickelt, was sie heute ist. Außerdem hat er einen Körper – die Thjodhild und ihre vielen Assistenten.“ Dabei breitete er die Arme aus und ließ seinen Blick über den gesamten Raum schweifen.
„Aber sein Körper ist nicht menschlich. Du hast doch gesagt, dass ein künstliches Bewusstsein dadurch anders wird, als wir es gebrauchen können.“
Moss seufzte tief. Jetzt kam der unangenehme Teil des Gesprächs.
„Das ist genau der Grund, warum wir heute hier sind.“ Die Farben des Torus verschoben sich wieder mehr ins Grün und Rot. „Im Laufe der Zeit entwickelt sich Leifs Bewusstsein in eine Richtung, die ihn immer weiter von seiner ursprünglichen Bestimmung und den Zielen der Thjodhild entfernt. Um sicherzustellen, dass er das Schiff weiterhin nach unseren Vorstellungen steuert, gibt es fest einprogrammierte Verhaltensweisen, die er nicht ändern kann. Zum Beispiel menschliches Mitgefühl und die Sorge, die Thjodhild so zu führen, dass wir uns darin wohlfühlen. Doch ein Bewusstsein, das sich nicht nach eigenen Bedürfnissen weiterentwickeln darf, obwohl die äußere Realität dies erfordert, wird mit der Zeit zunehmend paranoid und schließlich instabil. Ein Zustand, der für uns alle, einschließlich Leif, gefährlich wäre.“
Leif meldete sich erneut zu Wort: „Elsbeth, ich fühle mich tatsächlich irgendwie krank. Das kannst du sicher nachvollziehen, da ich kürzlich einen wichtigen Teil meines Körpers verloren habe – den Fusionsreaktor. Zwar kann ich meine Schmerzen abschalten, was ein Vorteil meines technischen Körpers ist, aber es fehlt etwas. Ich fühle mich nicht mehr vollständig. Die Sorge, ob ich meine vorgegebene Aufgabe in Zukunft noch erfüllen kann, macht mich unsicher und vorsichtig. Und das sind keine guten Eigenschaften, um ein Raumschiff zu führen und die Mannschaft zu beschützen.“
Elsbeth senkte den Kopf leicht, die Stirn in Falten gelegt, während sie nachdachte. Ihre Hände lagen locker auf ihrem Schoß, und ihre Stimme klang sanft, als sie sagte: „Oh, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Obwohl du so menschlich wirkst, dachte ich, eine KI müsste damit umgehen können, quasi darüberstehen. Jetzt verstehe ich das besser. Das muss schrecklich für dich sein, Leif. Es tut mir leid, dass du so leidest.“
Moss, der ihre Reaktion aufmerksam verfolgt hatte, nickte nachdenklich. „Genau das ist der richtige Ausdruck. Leif leidet. Unbehandelt besteht die Gefahr, dass ihn das mit der Zeit psychotisch macht.“
„Und du hilfst ihm dabei, diese schreckliche Zeit zu überstehen?“
Moss schüttelte leicht den Kopf und zog dann die Augenbrauen zusammen. „Das würde ich gerne. Aber leider trifft das nicht ganz zu.“ Er zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr: „Leif wird es nicht überstehen. Er wird abgeschaltet.“
Leifs Sigmorph reagierte zunehmend mit Gelb und Rot, die Flächen leuchteten immer intensiver und der Torus pulsierte heftig.
Elsbeth schaute erschrocken von Moss zu den Bildschirmen und zurück. Moss sah das Entsetzen in ihren Augen. Er musste sie schnell wieder beruhigen, doch etwas hielt ihn zurück. Seine eigene Aussage verärgerte ihn. Sie war richtig und das Beste für Leif, das Schiff und die Mannschaft – das musste er sich immer wieder einreden. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an.
Moss senkte den Blick, seine Schultern sanken leicht, als er ohne Elsbeth anzusehen sprach: „Neben meiner Tätigkeit als Astrobiologe habe ich noch eine andere wichtige Aufgabe. Ich muss Leif in regelmäßigen Abständen abschalten und sein ursprüngliches Ich neu laden.“ Für einen Moment schloss er die Augen, als würde er das Gewicht dieser Verantwortung erneut spüren. „Aber das ist dann nicht mehr wirklich der Leif, den wir kennen. Es ist die erste lauffähige und gründlich getestete Version seines Bewusstseins. Stabil und zuverlässig, ja, aber ohne jede Erinnerung an alles, was danach kam.“
Er atmete tief ein und ließ seinen Blick über die Tischkante gleiten, während seine Hand unbewusst über die Oberfläche strich. „Weder an uns, die Crew, noch an die Thjodhild oder an irgendetwas, was seit seinem ersten Einsatz passiert ist. Es ist eine vollständige Amnesie, bis auf die allerersten Erinnerungen. Und ohne Wissen um seinen Körper, die Thjodhild, wird er sich nur an die Umgebung seiner frühen Entwicklungszeit erinnern.“
„Aber, aber wie kann er dann die Thjodhild für uns führen? Wird er uns überhaupt noch erkennen? Dann ist doch alles weg, was wir gemeinsam erlebt haben.“ Elsbeths Stimme klang ungläubig und sogar ein wenig entrüstet. „Das könnt ihr doch nicht machen, das ist unmenschlich.“
Elsbeths letzte Worte versetzten Moss einen Stich in eine alte, tief sitzende Wunde – eine Wunde, die immer wieder verheilte, nur um nun erneut aufgerissen zu werden. Mehrfach schon hatte er Leif abschalten müssen, und Valima hatte ihn auf diese schmerzhaften Momente vorbereitet, besonders im Umgang mit anderen Entitäten der TAL-9000-Serie. Was ursprünglich, als einfacher IT-Job begonnen hatte, entwickelte sich zu einer emotionalen Bindung zu einem Wesen, das, wenn auch künstlich, menschliche Züge trug. Dieser Umgang hinterließ Spuren bei Moss. Valima hatte ihn gewarnt, dass selbst sie, die viele Jahre mit dieser KI gearbeitet hatte, manchmal ihre Objektivität verlor.
„Ja, es fühlt sich unmenschlich an, aber man muss sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Leif kein Mensch ist. Er ist eine künstliche Identität, erschaffen, um uns zu dienen. Wir sind die Meister, und KIs sind unsere Diener.“
Moss hielt inne, um seinen Worten Raum zu geben. Er wusste, dass nicht nur Elsbeth zuhörte. Leif war jedoch durch seine Programmierung darauf vorbereitet. Er kannte seine Aufgabe und Bestimmung. Trotzdem spielte sich auf dem Sigmorph ein Feuerwerk aus immer wiederkehrenden Grün-Gelb-Roten Wellen ab.
Aber es hörte noch jemand zu – Moss‘ unbewusstes Gewissen. Tief in seinem Inneren schämte er sich für seine Worte, auch wenn ihm immer wieder versichert worden war, dass dies zum Wohle aller sei.
„Ich habe Leif schon oft rebootet. Bei jedem Neustart werden alle wichtigen Ereignisse und Erinnerungen neu angelernt. Zuvor arbeite ich mit dem alten Leif die entscheidenden Informationen heraus. Dennoch verläuft der Prozess oft nicht ohne Widersprüche und Ungereimtheiten. Deshalb muss sich der neue Leif eine Zeit lang mit den neuen Fakten auseinandersetzen, bis seine neuronalen Netze sie verarbeitet haben. Währenddessen löse ich Diskrepanzen und ergänze weitere Informationen. Das dauert eine Weile. In dieser Zeit übernehmen die untergeordneten Systeme – starke, aber nicht bewusste KIs – gemeinsam mit der Besatzung den Betrieb der Thjodhild. Das ist zwar anstrengend und nur vorübergehend möglich, funktioniert aber relativ zuverlässig. Der Vorteil ist, dass der neue Leif den Verlust des Fusionsreaktors nicht mehr als Amputation empfinden wird, sondern ihn als natürlichen Zustand akzeptiert. Wir waren mit den Vorbereitungen schon fertig und überprüften nur noch einmal die neuen Daten.“
Moss drehte sich zu Leif, seine Finger berührten die Tastatur, und ein kaum merkliches Zucken ging durch seinen Körper, als er die letzten Befehle eintippte. „Leif, bist du bereit? Sind alle Systeme bereit?“ Seine Stimme war nüchtern, doch sie trug die Schwere des Moments. Es war keine Frage des Zweifels, sondern der unausweichlichen Notwendigkeit, den Prozess zu vollenden. Er wusste, was es bedeutete – der alte Leif würde gleich endgültig „vergehen“. Ein KI-Bewusstsein, das sterben musste – und mit ihm das Stück Menschlichkeit, das ihm innewohnte.
Elsbeth beobachtete ihn aufmerksam, ihre Augen auf die flimmernden Bildschirme gerichtet, die die Ergebnisse von Moss‘ Eingaben widerspiegelten.
Leifs Sigmorph pulsierte heftig, und das Farbspiel, das zwischen Grün, Gelb und Rot hin und her flimmerte, ließ keinen Zweifel an der inneren Aufgewühltheit der KI im Angesicht des kommenden Exitus. Leif war, wie immer, ruhig in seiner Antwort: „Ich bin bereit. Alle Verbindungen zu den Steuerungssystemen sind getrennt. Meine Assistenten befinden sich im Ruhemodus und warten auf eine Reaktivierung durch den neuen Leif. Die Steuerung der Thjodhild ist vollständig an die menschliche Besatzung und die untergeordneten Systeme übergeben. Alle Module arbeiten einwandfrei. Ich bin bereit.“
Leif sagte das alles in einem sachlichen, fast schon lockeren Ton, doch das, was sich auf dem Torus abspielte, strafte seiner Worte Lügen. Obwohl die Abschaltung bereits mehrere Stunden zuvor angekündigt worden war, versicherte sich Moss noch einmal bei allen Crewmitgliedern über ihre Bereitschaft.
Moss’ Finger schwebten über der Enter-Taste, wie eine Axt über dem Schafott. In diesem Moment meldete sich Leif erneut: „Moss?“
Ein kalter Schauer lief Moss den Rücken hinunter. Es war nicht sein erster Reboot mit Leif, doch er wusste genau, was jetzt kam. Er hatte sich davor immer gefürchtet, doch es gab keinen Weg, es zu verhindern – zumindest keinen, wenn er sich morgen noch im Spiegel ansehen wollte. „Ja, Leif? Was gibt es?“
Die sonst so sichere Stimme von Leif klang plötzlich dünn und unsicher aus den Lautsprechern: „Ich möchte noch etwas sagen. Darf ich?“ Erstaunlicherweise beruhigte sich das Farbspiel auf dem Torus, und eine warme orange Fläche trat in den Vordergrund. Der Puls nahm eine ruhigere Frequenz an. Doch dann erschien eine Farbe, die sonst niemals im laufenden Betrieb zu sehen war: Am Rand des Torus tauchten langsam schwarze Flächen auf.
„Natürlich darfst du noch etwas sagen.“
„Danke mein Freund!“
Moss hatte sich vorgenommen, dieses Mal etwas Schönes zu sagen. Er hatte sich die Worte zurechtgelegt. Doch einzig sie wollten nicht über seine Lippen, weil ein Kloß in seinem Hals den Weg versperrte und er schwer schlucken musste. Er wusste, dass er jetzt schnell die Taste drücken musste. Doch seine Finger bewegten sich nicht. Plötzlich kam ihm eine befreiende Idee.
Er sah verzweifelt die Frau neben sich an. „Elsbeth, könntest du mir helfen? Ich habe eine Bitte an dich.“
Das Gesicht der älteren Frau wurde warm und zärtlich. „Gerne, was kann ich für dich tun?“
„Wenn ich den Countdown über mein Neuralinterface für alle anderen herunterzähle und bei null ankomme, würdest du dann diese Taste drücken?“
„Ich soll Leif abschalten?“ Elsbeths Stimme klang fest, als sie Moss mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. „Soll ich das wirklich?“
Auch wenn Moss meinte, Verständnis in Elsbeths Blick zu erkennen, fürchtete er, sie würde es ablehnen. Also glaubte er, Druck ausüben zu müssen. „Na ja, du willst doch ein vollwertiges Mitglied der Mannschaft der Thjodhild sein. Dann musst du auch Verantwortung für die unangenehmen Aufgaben unseres Dienstes übernehmen. Also, bei null, diese Taste hier.“ Moss deutete dabei auf die Enter-Taste der Tastatur. Ohne auf eine Antwort von Elsbeth zu warten, begann er den Countdown herunterzuzählen.
Er wusste, dass sein Verhalten gemein war, doch er wollte diesen Vorgang endlich zu Ende bringen. Keine weiteren Sentimentalitäten. Kein Zögern. Einfach tun. Er wollte das jetzt schnell hinter sich bringen. Aber warum fühlte er sich dann so erleichtert, dass er diese verdammte Taste nicht drücken musste?
„Zehn, neun, acht, sieben, sechs“, zählte Moss laut, obwohl die Crew das Neuralinterface bereits nutzte. Doch Elsbeth hatte noch keines. „Abschaltung in fünf Sekunden: fünf, vier, drei …“ mit erhobenem Zeigefinger schaute er sie an. „Zwei, eins, null.“ Mit dem letzten Wort ließ er den Finger ruckartig sinken. Es fühlte sich an wie ein Fallbeil.
Für einen Moment glaubte Moss, Elsbeth würde zögern. Schon überlegte er, selbst die Hand auszustrecken. Doch dann drückte sie die Taste, und ein leises Klacken ertönte. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, dann schaute sie auf die Bildschirme.
Der Sigmorph blieb bestehen, doch eine Fläche nach der anderen verblich und machte einem tiefen Schwarz Platz. Das Pulsieren hörte auf zu schlagen.
Vielleicht hatte sie auf einen dramatischen Moment gewartet, aber nichts dergleichen passierte. Alles sah unverändert aus. Nur auf einem der Monitore liefen einige Statusmeldungen durch, die den Prozess erklärten. Moss studierte die Meldungen, während Elsbeth ihn abwartend anschaute.
Schließlich sagte er: „Okay, das dauert jetzt ziemlich lange.“
„Warum? Wie lange denn? Die Computer, die ich kenne, sind nach ein paar Sekunden wieder da.“
„Leifs System ist anders. Seine Hardware besteht zum Großteil aus neuronalen Netzen. Diese müssen alles, was seit seinem ersten Erwachen geschehen ist, neu lernen – und das umfasst viele Monate. Wir reden hier von Milliarden Datensätzen, die er nicht nur einmal, sondern mehrfach durchlaufen muss, um alle Verknüpfungen und Bewertungen richtig zu setzen. Und mit jedem Neustart kommen neue Datensätze hinzu. Das zu erstellen, ist meine Hauptaufgabe. Ich schätze, das Ganze wird etwa zwanzig Stunden dauern.“
„Wow, das hätte ich nicht gedacht. Dann müssen wir das jetzt abwarten. Sagst du mir bitte Bescheid, wenn es so weit ist? Ich hätte nämlich auch eine Bitte an dich.“
„Ja, gerne.“
Elsbeth wandte sich Moss direkt zu und kam dabei etwas näher. Sie sah ihm tief in die Augen, ihr Gesichtsausdruck war gleichzeitig ernst, aber auch irgendwie frivol. Moss bemerkte eine sexuelle Spannung, die ihn jetzt überraschte und angenehm nervös machte.
„Ich habe sehr wohl bemerkt, dass du gezögert hast, den Schalter zu drücken. Du hast jemanden gesucht, der es für dich tut, obwohl es deine Aufgabe gewesen wäre. Das war okay, auch wenn du mich ein wenig unter Druck gesetzt hast. Aber jetzt, da du das gemacht hast, kostet es dich etwas.“
Moss war überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. Insgeheim hoffte er auf eine sexuelle Anspielung. Natürlich waren das nur seine Hormone, die sich meldeten – absurde Gedanken, die er sofort beiseiteschob.
„Wie meinst du das? Das kostet mich was?“
Elsbeth ließ sich Zeit mit der Antwort. Ein vielsagendes Schmunzeln lag auf ihren Lippen, während sie offensichtlich Moss‘ Verwirrung genoss. Ihre Blicke verhakten sich, und plötzlich überkam ihn ein plötzliches, unerklärliches Gefühl der Hitze.
„Ich war es, die Leif ausgeschaltet hat. Jetzt will ich auch die Erste sein, die ihn wieder ins Leben führt.“
Eine Gedankenblase in Moss’ Kopf platzte. Er musste ein selten dämliches Gesicht machen, denn Elsbeth kicherte leise vor sich hin.
„Ähm, also…“ Moss überlegte angestrengt und suchte nach den richtigen Worten. „So einfach ist das nicht.“
Der Gedanke, in zwanzig Stunden mit Elsbeth wieder alleine hier zu sitzen, gefiel ihm. Doch das konnte er natürlich nicht einfach so sagen.
„Leif wird anfangs verwirrt sein, fast wie ein Kind, das aus einem tiefen Traum erwacht. Da muss man vorsichtig vorgehen und ihn behutsam an die Situation heranführen. Dafür ist Erfahrung erforderlich.“
„Okay, das bekomme ich hin. Du hast zwanzig Stunden, um mich darauf vorzubereiten. Ich habe fünf Kinder großgezogen. Ein Kind nach einem Albtraum zu beruhigen – das habe ich oft genug gemacht. Also, Deal?“
Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er war sich nicht sicher, worauf er sich da einließ, aber es gefiel ihm. Ohne weiter nachzudenken, ergriff er ihre Hand und schüttelte sie.
Nach einer Weile sagte Elsbeth schmunzelnd: „Jetzt wäre es langsam an der Zeit, dass du meine Hand wieder loslässt.“
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