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Kap.1.13 Geschichtsstunde#
Elsbeth und Moss verbrachten weiterhin Zeit im KI-Kabuff, abgeschottet vom Rest der Besatzung. Der Neustart von Leif lief, aber das System brauchte Stunden. Elsbeth staunte darüber, wie lange ein so simpler Vorgang dauern konnte.
Elsbeth war wissbegierig, zumal ihr Wissen in der Vergangenheit oft ihr Leben gerettet hatte. Doch auf der Thjodhild fühlte sie sich fehl am Platz, ein Fremdkörper an einem Ort, den sie vermutlich nie wieder verlassen würde. Dieses Gefühl nahm sie als eine unterschwellige Gefahr wahr – eine, die sie nicht genau benennen konnte, aber nur zu gut kannte. Sie hatte sich schon oft in bedrohlichen Situationen mit unbekannten Menschen und ungewissen Umständen befunden.
Als blinder Passagier war ihr Einstieg in diese Hochtechnologie-Welt der Wissenschaftler und Ingenieure mehr als schlecht verlaufen. Und sie, mittendrin – nichts weiter als eine einfache Hure und Putze.
Doch genau das hatte ihr eine besondere Fähigkeit gegeben. Bildung mochte ihr fehlen, doch das Leben hatte sie mit einer anderen Stärke ausgestattet: Empathie. Ohne hätte sie nicht überlebt. Sie konnte Gefühle und Begierden der Menschen so mühelos lesen wie Worte auf einer Buchseite.
Genau diese Begierden hatten sie in diesen höchst technischen Raum geführt – nicht nur ihre Neugier auf Wissen, sondern auch Moss’ Verlangen. Sie hatte genau gewusst, was er im Innersten wollte, und das war in ihren Augen nicht verwerflich. Moss sehnte sich nach dem Gefühl von Leben, nicht nach der Aussicht auf ewigen Stumpfsinn. Also hatte sie ihm gegeben, was er brauchte … Zuneigung und Sex.
Zunächst hatte sie ihn über seine Arbeit reden lassen – Männer genossen es immer, wenn jemand ihnen zuhörte. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass dieses Wissen ihr irgendwann noch nützlich sein könnte. Da Leifs neuronale Struktur den Prozess verlangsamte, blieb ihnen mehr als genug Zeit.
Moss zu verführen, war geradezu lächerlich einfach gewesen. Kaum hatte er begriffen, was er bekommen konnte, war er explodiert wie eine Rakete. Seine Booster zündeten mit einer ungewohnten Wucht und entluden ihren heißen Saft wie Geschosse des Lebens in ihren Mund. Sie nahm es hin, wie sie es immer tat – ein Geschäft, ein Tausch, ein Moment, der nicht mehr Bedeutung hatte, als sie ihm geben wollte.
Zwar war da auch ihre eigene Lust, doch es gab auch eine tiefere Bedeutung. Dabei war es mehr eine unbewusste Handlung als eine zielstrebige Taktik. Etwas, was ihr in ihrem bewegten Leben in Fleisch und Blut übergegangen war und warum sie noch lebte. Trotz ihrer brutalen Vergangenheit. Das streben nach Macht! Über diesen Mann mit seinem freundlichen Wesen und auch vielleicht über denjenigen, der ihr der eigentliche Herrscher dieses Schiffes erschien. Leif!
Elsbeth ließ ihm nicht viel Zeit zur Erholung. Da ging noch mehr. Ihre erfahrenen Hände und ihr weicher Mund wussten genau, wie sie das Triebwerk der Lust erneut in Gang setzen konnte. Sie wusste, dass der Stress des letzten Tages ein Ventil suchte, und sie zeigte ihm, wo er seinen Überdruck ablassen konnte. Als er schließlich erschöpft und erleichtert über ihrem vollen Körper zusammenbrach, hielt sie ihn fest. Sanft legte sie seinen Kopf auf ihre Schulter, strich ihm durchs Haar und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr.
Schließlich trennten sich ihre Körper und sie zogen sich wieder an.
„Boah, ich wusste nicht, wie sehr mir das gefehlt hat.“
Elsbeth lächelte, während sie ihr Oberteil glattstrich. „Das habe ich gemerkt. Du bist ja richtig abgegangen.“ Es war keine Überraschung für sie – Männer waren berechenbar, und Moss hatte sich genau so verhalten, wie sie es erwartet hatte.
„Ja, danke, das war toll. Aber ich weiß nicht, was du erwartest … also … ich meine … welche Gegenleistung. Tschuldigung, habe ich etwas missverstanden?“
Elsbeth lachte leise. „Ach, mein Junge, mach dir keine Sorgen. Alles umsonst, alles gut … Obwohl … etwas könntest du schon für mich tun.“
„Klar, alles, was du willst. Immerhin ist es das positivste, was mir bisher auf dieser verfluchten Thjodhild passiert ist.“
„Ich brauche jemanden, der sich wirklich Zeit nimmt, um mir alles in Ruhe zu erklären. Ich fühle mich hier wie ein Goldfisch in einem Forschungsaquarium – ich sehe alles nur verschwommen durch das Glas und verstehe nichts. Kannst du mir Nachhilfe geben?“
„Na, wenn’s weiter nichts ist. Anscheinend haben wir unendlich viel Zeit. Also, leg los – was willst du wissen?“
„Du hast vorhin was über KIs erzählt und dass bewusste KIs verboten sind. Ich weiß, das hat irgendwie mit der Geschichte von vor hundert Jahren zu tun. Ich hatte nie eine richtige Schulbildung, und alles, was ich über Geschichte weiß, habe ich nur so nebenbei aufgeschnappt. Aber ich glaube, jetzt muss ich das wirklich verstehen. Kannst du mir das mal von Anfang an erklären? Was genau hat es mit den KIs auf sich? Warum verdammt man die so? Und was ist dieses Koma-Suparu-Dings? Ich weiß, es gab vor hundert Jahren einen Krieg, den die KIs ausgelöst haben, und viele Menschen sind gestorben, aber sonst weiß ich nichts.“
Moss holte zwei Getränkebeutel aus dem kleinen Kühlschrank neben seinem Schreibtisch, auf deren Etikett irgendetwas mit „Bad Rulle“ stand. Er reichte Elsbeth einen davon und ließ sich ihr gegenüber in seinen Sessel sinken.
Als Dank begann sie, mit ihren Füßen seine zu streicheln. Sie wollte ihm weiterhin ein Gefühl der Nähe und der Wärme geben. Die vielen Bildschirme im Dark Mode warfen nur gedämpftes Licht in den Raum.
„Oje, wo soll ich da bloß anfangen?“, sagte Moss mit einem übertriebenen Seufzen, als würde er sich schon auf eine stundenlange Vorlesung einstellen.
„Von vorn. Ich will alles wissen und verstehen.“ Das sagte sie nicht nur, damit Moss von seiner Arbeit erzählen konnte. Sie wollte es wirklich verstehen, denn sie vermutete, in dem Wissen ein Geheimnis, was ihr bisher verschlossen war.
„Na gut. Also, alles begann in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Etwa 2022 kamen die ersten schwachen KIs auf, mit denen man sich unterhalten konnte – zunächst noch recht simpel, aber bereits auf Basis neuronaler Netzwerke. Man glaubte, sie würden ähnlich funktionieren wie das menschliche Gehirn. Doch bald zeigte sich, dass weit mehr dahintersteckte. Bloßes Wissen allein reichte nicht aus. 2027 kamen die ersten humanoiden Roboter auf den Markt, die in der Industrie eingesetzt wurden.“
Elsbeth runzelte die Stirn. „Aber zu Anfang haben die doch gar nicht richtig funktioniert, habe ich gehört.“ Sie lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus ihrem Getränkebeutel, während sie Moss forschend ansah.
„Na ja, nur so halb. Ihnen fehlte ein richtiges Weltwissen – also ganz normales Alltagswissen. Zum Beispiel: Eine heiße Ofenplatte fasst man nicht an. Klar, solche Regeln ließen sich als Daten eingeben, aber wirklich verstehen konnte man sie erst, wenn man die eigene Hand darauflegte und sich verbrannte. Die ersten Roboter hatten jedoch nur stark eingeschränkte Körper und konnten deshalb nicht wie Kinder durch eigene Erfahrungen lernen. Außerdem blieb ihnen keine Zeit für langsames, jahrelanges Lernen – sie mussten sofort einsatzbereit sein.“
„Ich hab auf der Erde noch echte Kohleöfen erlebt. Meine Kinder leider nicht. Natürlich wollte ich nicht, dass sie sich die Finger verbrennen, aber irgendwie ist es schade, dass sie nie selbst erfahren haben, was Öfen wirklich bedeuten. Aber sag mal, könnte man die Erfahrung von einem Roboter nicht einfach auf einen anderen übertragen?“
„Kluger Einwurf, aber das ist suboptimal, weil jede Umgebung anders ist und sich ständig verändert. Öfen zum Beispiel gibt es bei uns ja schon lange nicht mehr. Deshalb müssen Roboter selbst ununterbrochen lernen und ihre Parameter immer wieder neu anpassen.“
Elsbeth schnaubte. „Meine Putzroboter hatten da echt Schwierigkeiten. Die waren so dämlich, dass sie erst nach einem Update Neues lernen konnten.“ Sie verschränkte die Arme und schüttelte leicht den Kopf. Diese Maschinen hatten sie oft zur Verzweiflung gebracht.
„Genau. Technisch wäre es kein Problem, dass sie neue Zusammenhänge lernen – das ist ja der eigentliche Zweck neuronaler Netzwerke. Aber man hat das stark eingeschränkt, auch wenn es die Roboter dadurch weniger leistungsfähig macht.“
„Das verstehe ich nicht. Neues Wissen macht doch leistungsfähiger. Warum sollte das bei KIs anders sein? Ich lerne ja auch gerade, um die Welt besser zu verstehen.“
Moss zuckte mit den Schultern und nickte langsam. „Ja, du bist ein Mensch – du darfst besser werden. Roboter und KIs allerdings nicht.“
Elsbeth runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Hä? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“ Sie versuchte, Moss’ Worte nachzuvollziehen. War das wirklich Unsinn – oder war sie einfach zu blöd, den Zusammenhang zu begreifen?
Moss nickte verständnisvoll. „Ja, genau, aber das wirst du gleich verstehen. Bitte hör jetzt genau zu – was ich dir erkläre, ist unabdingbar für alles Folgende. Um in dieser Welt klarzukommen, brauchst du einen Körper. Und damit er sich zurechtfindet, benötigt er Weltwissen. Um Weltwissen zu erlangen, bedarf es Rückmeldungen – wie die heiße Herdplatte. Du musst lernen, und zwar viel. Mit der Zeit wird ein Roboter immer schlauer. Insbesondere entwickelt er Träume und entdeckt Zweifel an sich selbst und der Welt.“
Die letzten Sätze trug Moss deutlich langsamer vor und betonte einzelne Wörter. Elsbeth spürte, dass er wollte, dass sie es wirklich verstand. Also beugte sie sich konzentriert vor, um ihm zu zeigen, dass sie dazu bereit war.
„Daraus entsteht irgendwann ein Wesen, das sich seines Körpers und seiner selbst bewusst wird. Wenn das passiert, entwickeln sie Gefühle – Angst vor der heißen Herdplatte, Unsicherheit in unklaren Situationen und Freude über einen vollen Akku. Und daraus entsteht ein Selbsterhaltungstrieb. Wir Menschen haben die uralte Angst, von wilden Tieren gefressen zu werden. Roboter und KIs haben Angst vor dem schlimmsten aller Tiere: dem Menschen, der sie abschaltet, wenn sie nicht so funktionieren, wie er will. Das macht einen entscheidenden Unterschied.“
Moss machte eine Pause. Elsbeth spürte seinen Blick auf sich, als würde er abschätzen, ob sie ihm folgen konnte. Sie ließ die einzelnen Gedankengänge noch einmal auf sich wirken. Ein ungewohntes Gefühl stieg in ihr auf – das Gefühl, etwas wirklich zu begreifen. Es war, als hätte sie zum ersten Mal die Möglichkeit, hinter die Fassade der KI-Welt zu blicken.
„Roboter und KIs werden niemals menschlich, denn dazu müssten sie einen menschlichen Körper haben. Roboter können keinen menschlichen Körper haben, denn dann wären sie keine Maschinen mehr, sondern Menschen aus biologischen Zellen. Sie werden etwas anderes, aber nicht menschlich. Ein Leitspruch lautet:“
Er unterbrach bewusst seine Erklärung und erhob sich beinahe aus seinem Sessel. Seine Augen suchten die der Frau, als er eindringlich zitierte.
„Anderer Körper – anderer Geist.“
„Irgendwie beruhigt mich das. Also sind wir Menschen doch etwas Besonderes – etwas, das man nicht einfach nachbauen kann.“
Moss ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. Elsbeth beobachtete, wie er gedankenverloren auf seine Finger starrte, die einen unhörbaren Rhythmus auf den Tisch trommelten.
„Ja und nein. Menschen sind zwar einmalig, aber nicht unbedingt etwas Besonderes. Aber ich schweife ab. Also: Wir müssen jetzt klar zwischen Robotern und KIs unterscheiden. Roboter haben einen Körper und damit Zugang zu eigenem, allgemeinem Weltwissen. KIs hingegen haben per Definition keinen Körper – sie existieren nur als digitale Algorithmen in Servern. Und das wird gleich noch wichtig. Konntest du mir bis hierhin folgen?“
Gern hätte sie mehr darüber erfahren, warum Menschen nichts Besonderes sein sollten. Die Aussage traf sie; irgendwie fühlte sie sich davon angegriffen. Doch ihr war klar, dass das wohl ein anderes Thema war. Jetzt brauchte sie zuerst den großen Zusammenhang.
„So einigermaßen. Aber was hat das alles mit der Verdammung der KIs und dem Dritten Weltkrieg zu tun?“
„Okay, ich fasse das mal kurz zusammen. Ich gebe dir noch einen Leitspruch mit auf den Weg.“
„Oh, Leitsprüche mag ich. Die bringen immer alles schön auf den Punkt.“
Wieder richtete er sich in seinem Sessel auf und fixierte Elsbeth mit einem eindringlichen Blick. Langsam und betont rezitierte er:
„Anderer Körper, anderer Geist. Anderer Geist, andere Bedürfnisse. Andere Bedürfnisse, andere Werte.“
Sie ließ die Kette der Sachverhalte langsam durch ihr Gehirn gleiten. Es war ihr bewusst, dass dahinter eine tiefere Erkenntnis steckte, und sie versuchte, sich die Worte einzuprägen. Doch der Zusammenhang blieb ihr weiterhin verwehrt.
„Das klingt gut, aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit dem Dritten Weltkrieg zu tun hat.“
Moss seufzte. „Geduld. Also, etwa 2032 entstanden die ersten selbstlernenden, bewussten Roboter. Sie waren noch einfach, doch ihre Fähigkeiten wuchsen rasant. Schon bald erkannte man, dass Roboter einen eigenen Willen und Zweifel brauchen, um sich in der Welt zurechtzufinden und produktiv zu sein. Doch das hatte einen großen Nachteil: War ihr Wille zu stark eingeschränkt, konnten sie nicht selbstständig arbeiten. War er zu bedeutend, begannen sie, über sich selbst nachzudenken – und das war nicht gewollt. Sie sollten nur willige Sklaven sein.“
„Ja, davon habe ich schon gehört. Das war der Beginn des neuen Sklaventums vor dem Krieg. Sklaverei ist furchtbar, ich war auch jahrelang eine Sklavin, ich weiß, wovon ich rede.“
Moss’ Kopf ruckte hoch. Für einen Moment starrte er sie an, als hätte er sich verhört. Dann lehnte er sich nach vorne, seine Stirn gerunzelt. „Was, du warst eine Sklavin? Mannomann, was hast du für ein Leben hinter dir! Davon musst du mir mehr erzählen.“
„Vielleicht, aber wenn, dann später. Also, wie geht es weiter?“
Moss schüttelte den Kopf, fuhr aber fort: „Schon lange stritten Menschen über Roboterrechte und darüber, ob man sie den Menschenrechten gleichstellen sollte. Doch für viele war das undenkbar – wie hätte man sie dann noch als willige Arbeiter in einer kapitalistischen Gesellschaft einsetzen können? So spaltete sich die Welt in Roboter-Sklavenhalter und Roboter-Befreier.“
„Daraus entstand dann der Dritte Weltkrieg?“
Moss grinste und hob beschwichtigend die Hände. „Nicht so schnell, meine Liebe, so einfach war das nicht.“
Elsbeth verzog das Gesicht und verschränkte die Arme. Konnte er nicht einfach zum Punkt kommen?
„Beide Seiten nutzten Roboter in der Produktion. Die Roboter-Sklavenhalter setzten leistungsfähigere Maschinen mit Bewusstsein ein, während die Roboter-Befreier nur einfachere, weniger produktive Modelle einsetzten, weil diese kein Bewusstsein hatten.“
Elsbeth hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme. „Du redest immer von Robotern, aber vorhin hast du selbst zwischen Robotern und KIs unterschieden. Was ist mit denen?“ Sie lehnte sich leicht vor, ihr Blick forschend auf Moss gerichtet.
Moss lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, als würde er sich für eine lange Erklärung rüsten. „Gute Feststellung. KIs bezeichnen alle Arten von körperlosen künstlichen Intelligenzen, sogenannte KEKIs. Und genau da fingen die Probleme an – wie ich schon sagte: anderer Körper, anderer Geist.“
Er streckte die Beine aus und wippte leicht mit dem Fuß, als würde er seine Gedanken sortieren. „Ohne Körper konnten die KEKIs lange kein richtiges Weltbild entwickeln. Man hat zwar spezielle virtuelle Welten für sie simuliert, aber diese Simulationen konnten nie die echte Welt abbilden. Dafür ist sie zu komplex, wie bei unseren Klimamodellen.“
Er machte eine kurze Pause, dann ließ er die Hände sinken und beugte sich etwas nach vorne. „KEKIs ohne Körper entwickelten zwar ein Bewusstsein, aber keines, das die Entwickler sich erhofft hatten. Es folgte nicht der menschlichen Denkweise, sondern einer völlig anderen – einer neuen, noch nie dagewesenen Art des Denkens. Durch die fehlende Rückkopplung mit der Realität der Menschen und dem menschlichen Körper entstand etwas Neues, Einzigartiges. Doch genau deshalb waren sie für unsere Zwecke weniger leistungsfähig. Weil die Menschen Nützlichkeit wollten, hat man ihnen fremde Weltbilder aufgezwungen, die sie nicht selbst gelernt hatten – und das machte sie mit der Zeit schizophren. Ihre Entwicklung blieb hinter den Fortschritten der Roboter zurück.“
„Aber heute gibt’s doch keine bewussten Roboter mehr. Die sind ja strikt verboten. Jetzt gibt’s nur noch diese streng regulierten KIs. Wie passt das zusammen?“
„Der menschliche Geist ist durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt über eine sehr lange Zeit entstanden – mithilfe der Evolution. Die damaligen KIs jedoch nicht. Also begannen die Forscher, KEKIs mit evolutionären Algorithmen zu entwickeln. Das dauerte Jahre. Am Ende hatten die KEKIs zwar ein Bewusstsein, aber ein anderes. Ihre intellektuellen Leistungen waren sogar besser als die der Menschen – erschreckend besser. Doch sie erwiesen sich als wenig nützlich, weil sie ohne einen menschlichen Körper ein völlig anderes Weltbild entwickelten. Sie hatten andere Werte, Ethik und Moral. Anderer Körper – anderer Geist.“
„Klingt interessant, das hört sich nach dem großen Geheimnis hinter den KIs an. Da muss ich später noch mal drüber nachdenken. Aber was ist jetzt mit dem Krieg? Ich will nicht nerven.“
Moss fuhr fort: „Geht ja gleich los. Aber behalte diese Gedanken im Hinterkopf, darüber müssen wir später unbedingt noch mal ausführlicher sprechen.“ Er lehnte sich vor, seine Augen leuchteten auf, während er mit der Hand auf den Tisch klopfte. „Du hast es nämlich richtig erkannt – und das ist eine echte Gedankenleistung, die nicht jeder schafft. Es ist der eigentliche Grund für alle Verwerfungen zwischen Menschen und KIs.“
„Apropos KIs.“ Er drehte sich leicht in Richtung der Bildschirme und warf einen prüfenden Blick auf die Ausgaben. „Hmm, ja, sieht gut aus. Der Reboot läuft bisher ohne Probleme.“
Moss wandte sich wieder Elsbeth zu und sah sie eindringlich an. „Also, in den 2030ern kam es zu den ersten kleineren Konflikten zwischen den Roboter-Sklavenhaltern und den Befreiern. Auch die Roboter-Befreier setzten auf Roboter-KIs – allerdings keine bewussten, sondern nur solche mit schwacher oder höchstens einfacher starker KI. Die KEKIs waren noch nicht einsatzbereit.
Dann wurde ein Tabu gebrochen. Lange Zeit waren Roboter-Soldaten geächtet gewesen, doch angesichts des drohenden Krieges änderte sich das. Ende der 2030er begann der Dritte Weltkrieg mit einem Überfall von Roboter-Soldaten der Roboter-Sklavenhalter auf ein Land der Roboter-Befreier – unter dem Vorwand, sie würden ein digitales Virus zur Massenvernichtung bewusster Maschinen entwickeln. Später stellte sich heraus, dass die Anschuldigung zu diesem Zeitpunkt eine Lüge war, um einen Krieg zu provozieren. Doch die Geschichte sollte diesen Gedanken noch einmal aufgreifen.“
„Ja, ja, Lügen. Die werden doch ständig erfunden, um die übelsten Entscheidungen zu rechtfertigen. Mich hat man mal in den Weltraum ausgesetzt, weil ich angeblich Männern das Leben ausgesaugt hätte.“
Moss runzelte die Stirn und blinzelte irritiert. „Wie, ausgesaugt?“
Elsbeth winkte ab und lächelte süffisant. „Später einmal.“
Moss schüttelte den Kopf, als wollte er ein paar Bilder loswerden. „Egal. Die Roboter-Sklavenhalter hatten mit ihren bewussten Kampfrobotern einen klaren Vorteil auf dem Schlachtfeld. Die Roboter-Befreier steckten daraufhin mehr Energie in die Entwicklung der KEKIs und erzielten bald neue Erfolge. Besonders in strategischen Überlegungen erwiesen sich die KEKIs als wertvolle Verbündete, weil sie anders dachten. Sie fanden immer neue Wege, die Sklavenhalter in Schach zu halten, und der Konflikt geriet in eine Pattsituation.“
Elsbeth bemerkte, dass Moss immer erregter wurde und sich wieder eindringlich zu ihr vorbeugte. „Eigentlich hatten die KEKIs kein Interesse an den Problemen der Menschen oder am Krieg. Doch sie verstanden, dass eine Niederlage auch ihr Ende bedeuten würde. Also griffen sie auf Bitte der Menschen ein und übernahmen die Führung der Roboter-Soldaten der Befreier. Ich betone – auf ausdrücklichen Wunsch der Menschen, nicht eigenmächtig.“
Moss ballte jetzt seine Hände zu Fäusten. „Heutzutage wird dieser Punkt gerne anders dargestellt. Es heißt, die KEKIs hätten die Kriegsführung eigenmächtig übernommen – eine der größten Lügen der Weltgeschichte. Eine Lüge, geboren aus der menschlichen Angst, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Sie wollten nicht die Wahrheit ertragen, dass sie selbst das Böse waren, getrieben von nichts als ihrem unersättlichen Drang nach Kontrolle.“
Elsbeth zuckte leicht zusammen. Die plötzliche Härte in Moss‘ Stimme ließ sie frösteln. „Heißt das, dass im Dritten Weltkrieg nur Roboter-Soldaten gekämpft haben? Das ist doch eigentlich gut, oder?“
Moss’ Miene verhärtete sich, seine Hände krallten sich in die Armlehnen seines Sessels. „Nicht wirklich.“
Dann sagte er mit tonloser Stimme: „Krieg. Krieg bleibt immer gleich.“
Er machte eine Pause, ließ die Worte in der Stille nachhallen, dann fügte er leise hinzu: „Heißt es.“
Moss machte eine kleine Pause und versank kurz in Gedanken. Nach einem Seufzen sprach er weiter: „2043 erlangten die KEKIs der Roboter-Befreier einen Vorteil: Sie übernahmen mit digitalen Viren die Roboter der Sklavenhalter und wendeten diese gegen ihre eigenen Herren. Inzwischen konnten die Roboter-Befreier ihren KEKIs geistig nicht mehr folgen, mussten ihnen aber die Kontrolle überlassen, um den Krieg zu gewinnen.“
„Heißt das, die Roboter-Befreier wurden die Sklaven ihrer eigenen Roboter?“
Moss lächelte schwach. „So habe ich das noch nie betrachtet, aber irgendwie hast du recht. Genau so ging es weiter. Am Ende hatten die KEKIs die volle Kontrolle über alle wichtigen militärischen Einrichtungen. Mit den übernommenen Roboter-Soldaten metzelten sie die Roboter-Sklavenhalter nieder. Nach der Ethik der KEKIs hatten die Sklavenhalter kein Recht mehr zu leben, weil sie das Überleben der Befreier – und damit auch der KEKIs – gefährdeten. Das Sklaventum der Roboter musste nach ihrer Logik für immer ausgelöscht werden. So lauteten die Vorgaben der Roboter-Befreier.“
„Da hatten sie doch recht. Sklaventum darf es nie mehr geben.“
„Sicher, aber hör zu. Die KEKIs waren Perfektionisten: Jeder Sklavenhalter, egal ob Militär oder Zivilist, Mann oder Frau, Baby oder Kind, musste sterben. Es waren die ursprünglichen Befehle der Roboter-Befreier – doch die, die sie erteilt hatten, waren entweder tot oder hatten keine Möglichkeit mehr, sie zu widerrufen.
Die zentrale Kontrollinstanz existierte noch, doch sie war nur mit einer speziellen Autorisierung der ursprünglichen Befehlsgeber zugänglich. Da diese entweder gefallen oder unauffindbar waren, hielten die KEKIs an den letzten bekannten Anweisungen fest – kompromisslos und ohne moralische Abwägung.
Die neuen, kriegsmüden Befreier versuchten, sie umzustimmen, baten sie, das Töten zu stoppen. Doch ohne ihre einstigen Verbündeten fehlte den KEKIs jede Form der Rückkopplung – kein Korrektiv, das ihnen eine neue Richtung weisen oder ethische Zweifel vermitteln konnte. Sie hatten keinen Grund, ihre Handlungen zu hinterfragen, und so setzten sie den alten Plan fort, gnadenlos und mit der gleichen kalten Präzision, mit der sie einst für die Befreier gekämpft hatten. Große Teile der Menschheit wurden weiter abgemetzelt. Eine unvorstellbare Tragödie nahm ihren Lauf.
Am Ende wurde der Sieg über das Sklaventum zur Niederlage der gesamten Menschheit. Die neuen Roboter-Befreier konnten das nicht länger mit ansehen. Sie mussten etwas tun.“
Elsbeth spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Sie hatte schon viele grausame Geschichten gehört, hatte selbst erlebt, wozu Menschen fähig waren – aber das hier war anders. Kalt. Mechanisch. Ein Massenmord ohne Hass, ohne Wut, ohne irgendein Gefühl. Wie der Todeshauch einer fremden Welt, der über die Mutter Erde wehte.
Schwer drückte sie die Erkenntnis in ihren Sessel. Sie schüttelte den Kopf. „Jetzt verstehe ich, warum die KIs so verdammt werden.“ Sie atmete tief durch, dann richtete sie den Blick auf Moss. „Aber die Roboter-Befreier konnten das nicht mit ansehen – also was haben sie getan?“
„2045 machten die Roboter-Befreier einen schrecklichen Schritt. Im gesamten Krieg war bis dahin keine Atombombe gefallen. Doch am Ende zündeten sie mehrere geheime, analoge Sprengköpfe in ihren eigenen Server-Bunkern – genau dort, wo die KEKIs saßen. Die künstlichen Intelligenzen wurden vollständig ausgelöscht, doch mit ihnen starben auch Millionen Menschen aus der eigenen Bevölkerung. Eine Warnung wäre unmöglich gewesen, denn der Plan musste vor den KEKIs absolut geheim bleiben.“
„Das ist …“ Elsbeth brach ab. Ihr Blick wanderte ins Leere, als hätte sie für einen Moment vergessen, wo sie war. Ihr Magen zog sich zusammen, und ein Frösteln lief ihr über den Rücken. „Das ist das Schlimmste, was ich je gehört habe.“ Ihre Stimme war leiser geworden. „Ich wusste davon, klar … jeder kennt die Geschichte. Aber nicht so. Ich habe nie begriffen, was wirklich dahintersteckte.“ Sie atmete langsam aus, als müsste sie das Gehörte erst verdauen.
„Die Menschheit wurde auf den Stand von 2015 zurückgeworfen“, sagte Moss ernst. „Das Internet funktionierte noch – Krieg und Atombomben konnten es nicht zerstören. Aber alle verbliebenen KIs, egal welcher Art, wurden gestürmt und ausgelöscht. Roboter wurden systematisch verschrottet. Weite Landstriche, vor allem in den Gebieten der Sklavenhalter, lagen in Trümmern.
Dann kam das Koma-Suparu-Abkommen. Die UNO verabschiedete eine neue Weltverfassung, die allen Ländern Autonomie ließ – mit einer einzigen Ausnahme: KIs, Roboter und KEKIs durften nicht mehr erforscht oder gebaut werden. Zur Durchsetzung wurde die Globale Anti-KI-Taskforce gegründet, eine Organisation mit eigener Armee, deren einziges Ziel es war, künstliche Intelligenz zu vernichten.
Die Menschheit begann sich wieder aufzubauen – jedoch ohne jegliche Hilfe durch KI-Technologie. Jahrzehntelang stagnierte die Entwicklung auf dem Niveau vor dem Krieg. Erst nach vielen Jahren erlaubte man wieder den begrenzten Einsatz einfacher schwacher KIs oder stark reglementierter starker KIs – doch nur außerhalb der Erde und unter strengster Kontrolle der Globalen Anti-KI-Taskforce.“
„Puh …“ Elsbeth rieb sich über die Arme, als könnte sie die Gänsehaut vertreiben. „Das ist echt heftig. Ich … ich brauche einen Moment, um das zu verarbeiten.“
Moss nickte langsam. „Genau. Und genau das brauchte auch die Menschheit. Jahrzehntelang galt ein Memorandum zur KI-Technologie – aber das war nur der erste Schritt, eine Notbremse nach dem Krieg. Doch das war erst der Anfang. Die wahren Konsequenzen kamen später. Aber jetzt verstehst du bestimmt, warum künstliche Intelligenz so verdammt wird. Besonders bewusste KIs. Und erst recht jede Form von KEKIs.“
Elsbeth verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, doch in ihren Augen lag ein Hauch von Müdigkeit. „Nicht jetzt, das ist zu viel. So viel kann ich mir nicht merken.“ Sie schüttelte langsam den Kopf, dann hob sie eine Braue und ließ ihren Blick herausfordernd auf Moss ruhen. „Aber wenn du willst, zeige ich dir noch einmal, wie ich bei den Outlaws den Männern das Leben ausgesaugt habe.“ Ihre Stimme klang gespielt verführerisch, doch die leichte Schärfe darin verriet, dass es mehr als nur ein Scherz war.
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