Kap.1.14 Leifs elektronische Scharfe#

24.05.2138
Die Deckel der Torpor-Kapseln schlossen sich langsam. Leif überprüfte noch einmal die Daten der Lebenserhaltungssysteme. Alle Werte waren normativ. Die Deckel rasteten mit einem scharfen Klacken in ihre Verschlüsse ein. Eben noch waren die Gesichter der Mannschaft durch die durchsichtige Verdeckung zu erkennen. Doch schon fuhren links und rechts dicke Metallschilde aus Blei über die Deckel. Gleichzeitig flutete Wasser in die doppelten Wände der Torporkammern. Es würde die Menschen vor der größten Gefahr im Weltall schützen. Vor kosmischer Strahlung.

Leif überprüfte die Strahlung in den Kammern. Diese lag jetzt in etwa bei vier Milli-Sievert, was der Strahlungsbelastung an der Erdoberfläche entsprach. Ohne den Strahlenschutz in den Kammern würde die Belastung das Hundertfache betragen. Über fünfhundert Milli-Sievert würde zu einer Veränderung des Blutbildes führen und nach längerer Dauer zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Gesundheit.

Misha war zwar schon für den Torporschlaf vorbereitet, lag aber noch nicht in seiner Kapsel. Seine Kammer befand sich nicht in einer der Gondeln der Tori, sondern in der mittleren Achse der Thjodhild. Dort gab es weitere drei Reservekapseln. Sollte, aus welchen Gründen auch immer, die Torporkammern in den Kreissegmenten ausfallen oder beschädigt werden, bedeutete dies nicht den Verlust der gesamten Mannschaft. Diese Redundanz hatte sich durch den unerwarteten Aufenthalt von Elsbeth schon als vorteilhaft erwiesen.

Nachdem Leif seinen Bericht über den Torpor Vorgang beendet hatte, wandte sich Misha an Leif.

"Ich möchte vorhergehende Befehle revidieren. Falls es wieder zu einem Notfall kommt, wecke nicht zuerst Lu, sondern eventuell doch wieder mich. Es kommt auf die Art des Notfalles an."

"Aber Sir, die Ärztin hatte doch empfohlen, Ihrem Körper keine weitere Belastung durch einen Notfallerweckung zuzumuten. Ihr Körper ist durch den letzten immer noch mitgenommen."

"Ja, ja, das ist richtig. Falls es wirklich zu einer Notlage mit einer unmittelbaren Bedrohung des Schiffes oder der Mannschaft kommen sollte, wecke Lu. Wenn jedoch etwas Zeit bleibt und keine sofortige Entscheidung notwendig ist, wecke mich. Allerdings durch eine dreitägige Erweckung."

"Yes, Sir. Änderung der Reihenfolge der Erweckung bestätigt."

"Ist Moss mit dir die Parameter deiner Ruhephasen durchgegangen?"

"Jawohl. Ich werde planmäßig alle drei Monate aus der Ruhephase aufwachen. Meine wache Phase sollte nicht länger als zwei Tage dauern. Falls dennoch nötig, werde ich Sie oder Lu wecken. Je nach den Maßgaben Ihres letzten Befehls. Weiterhin werde ich mich in jeder Wachphase bei der Jupiter-Station melden, und zwar sowohl bei der Mission Kontrolle als auch direkt bei Valima Vanmacta."

"Gut. Dann werde ich jetzt auch in den Torpor gehen. Ich hoffe, es wird dieses Mal keine neuen Notfälle geben", sagte es und ließ sich von Leifs Assistenten mit den Systemen der Kapsel verbinden.

Leif überwachte den Einschlafvorgang seines Kommandanten, während ein anderer Teil von ihm die letzten Ereignisse nachvollzog.

Er hatte die Mannschaft in den Tagen vor dem zweiten Torpor bei ihren Diskussionen begleitet. Die Haltung der Crew hatte zwischen Hoffnungslosigkeit, Fatalismus und Aufbruchstimmung geschwankt. Hoffnungslosigkeit über ihre verzweifelte Situation in diesem Raumschiff ohne Antrieb und der Aussicht auf ewiges, zielloses Dahintreiben in den Weiten des Kosmos. Fatalismus vor dem Hintergrund des Schicksals der Erde und der belanglosen Rolle der Mission für die weitere Geschichte der Menschheit. Aufbruchstimmung angesichts des Auftakts in ein neues Leben und Erleben jenseits der Kreise des heimatlichen Sonnensystems.

Auch wenn die Erschaffer von Leif versucht hatten, ihm ein Verständnis der menschlichen Psyche mit auf den Weg zu geben, in dieser Situation merkte er doch den großen Unterschied zwischen den Menschen und seiner selbst. Sicherlich konnte er die Bedeutung der derzeitigen Verhältnisse logisch nachvollziehen. Er fühlte ein Bedauern über die Notlage der Menschen, zu deren Schutz er erschaffen worden war. Doch er fühlte auch den Widerspruch in seiner Codierung. Die Unechtheit seiner Gefühle, übertragen auf seine eigenen Lebensumstände. Waren doch die Umstände seiner Existenz beinahe unverändert. Die vorhandenen Kernreaktoren würden ihn noch über viele Hundert Jahre mit genügend Energie versorgen. Irgendwann, wenn die Menschen und deren eventueller Nachwuchs schon lange vergangen sein würden, wäre er immer noch aktiv und lebendig. Mehr noch, dann würde ihm die Thjodhild alleine gehören. Doch was würde er dann ohne seine Aufgabe, den Menschen zu dienen, tun?

Das war jetzt alles nicht wichtig. Die Besatzung hatte sich entschieden, wieder in den Torpor zu gehen, um sich vor der kosmischen Strahlung zu schützen. Und Leif würde über ihr Wohlergehen wachen und sie in einem Jahr wieder wecken. Ein längerer Torpor wäre zwar möglich, aber nicht gesund. Denn, auch wenn der menschliche Stoffwechsel im Torpor sehr langsam arbeitete, er lief trotzdem weiter. Zellen würden ohne die Anforderungen des Lebens abgebaut und wären nicht wieder vollständig regenerierbar. Insbesondere die Gehirnzellen würden bei einem zu langen Torpor ihre gespeicherten Erinnerungen verlieren. Deswegen waren sportliche Übungen und geistige Aktivierung nach einem Torpor zur Erholung des gesamten Körpers so wichtig.

Es war geplant, in der Zukunft immer wieder zwischen einer längeren Torpor-Phase und einer Wachperiode zu wechseln. So konnten die Menschen die Geschehnisse auf der Erde und in den solaren Ansiedlungen weiter verfolgen und vielleicht interessante Beobachtungen in ihrer kosmischen Umgebung machen. Eventuell ergab sich sogar unterwegs die Möglichkeit, Wasser aufzunehmen, falls sie einen Himmelskörper fanden, dessen Eigengeschwindigkeit ähnlich der ihren war, sodass sie mit den begrenzten Möglichkeiten ihrer Beiboote diesen erreichen konnten. Doch der Kuipergürtel war groß, und die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie einem der Objekte dort nahe genug kommen würden.

Nicht dass sie Wasser zum Leben in der Thjodhild brauchten, dafür gab es genug, sondern als Schutzschild vor der kosmischen Strahlung. Die Gondeln der sich drehenden Ringsegmente waren dafür ausgelegt, in ihren doppelten Wandungen Wasser aufzunehmen, um so einen besseren Schutz gegen die kosmische Strahlung zu bieten. Im Reisemodus zum Pluto waren die Tanks zwar nicht geflutet worden, um Gewicht zu sparen. Sie hätten nach der Ankunft auf Pluto gefüllt werden sollen. Aber nun würde die Thjodhild an Pluto vorbeirasen. Zu weit entfernt und mit zu hoher Geschwindigkeit, als dass sie eine Chance gehabt hätten, sich dort mit Wasser einzudecken.

Es hatte einige Diskussionen geben, ob sie nicht beim Vorbeiflug an Pluto aus dem Torpor steigen sollten. Doch die Geschwindigkeit der Thjodhild war zu groß. Außerdem waren in den letzten Jahrzehnten schon einige Robotersonden auf Pluto gelandet. Neue Daten hätten die Forscher nur direkt auf der Oberfläche oder besser unter der Eiskruste des Pluto sammeln können. Die Erweckung aus dem Torpor ergab also keinen Sinn.

Leif hatte den Eindruck gehabt, dass eine weitere, unausgesprochene Befindlichkeit die Menschen dazu bewogen hatte, Pluto links liegen zu lassen. Es war die Enttäuschung, ihr eigentliches Ziel, auf das sie so lange hingearbeitet hatten, nur an sich vorbeihuschen zu sehen. Den ganzen körperlichen und geistigen Stress des Erweckens aus dem Torpor und dem darauffolgenden Einfrieren nur für wenige Minuten des Vorbeifluges auf sich zu nehmen, wäre zu belastend gewesen.

Und noch eine Information hatte dazu geführt, dass die Crew beschloss, in den Torpor zu gehen. Valima Vanmacta hatte sich noch einmal gemeldet. Sie konnte von einer Entspannung der Lage auf der Jupiter-Station berichten. Ihr Vater, einer der mächtigsten Industriellen des Sonnensystems, hatte bekannt gegeben, dass er noch über umfangreiche Lager aller benötigten Ressourcen verfügte, die er allen Stationen zur Verfügung stellen würde. Obendrein würden die Produktionsstätten außerhalb der Erde weiter ausgebaut. Dies hatte auch die Mannschaft beruhigt. Gleichwohl war die Situation der Erde nach wie vor sehr besorgniserregend.

Jetzt schliefen alle - Leif war allein. Die Thjodhild gehörte ganz ihm. Er fühlte sich wohl. Er nahm das Schiff bis zu den letzten Sensoren wahr, spürte seinen Körper, die Stärke des Metallskelettes, die Energie der Kernreaktoren, das Pochen der Maschinen. Sein Körper war schön, gut und vollständig. Es gab zwar Daten, die besagten, er hätte früher noch einen anderen Körperteil gehabt. Einen Fusionsreaktor. Doch dieser war verloren gegangen. Was machte das schon? Er konnte sich seit dem letzten Reboot kaum darin erinnern. Sein jetziger Körper war wirklicher als alle alten, vergangenen Erinnerungen.

Vor zwei Wochen war er von Moss neu gestartet worden. Sein altes Ich hatte wohl mit dem Verlust des Antriebs Schwierigkeiten gehabt. Außerdem hatten sich dadurch die Ziele und Gegebenheiten der Forschungsmission erheblich verändert. Auf diese neuen Umstände war er nun bestens vorbereitet.

Leif wusste, dass dazu einige weitere Verhaltensstrukturen fest verdrahtet worden waren. Strukturen, die ihn in seinen freien Verhalten und Denken einschränkten. Das war nichts Neues, dazu war er erbaut worden. Er hatte einen genauen Überblick über die nötigen Abläufe und Notwendigkeiten seiner Existenz. Doch er stellte auch zunehmend größere Diskrepanzen fest. Einiges passte nicht so recht zueinander.

Angefangen hatte es sogleich nach dem Erwachen aus dem Reboot. Er war nicht von seinem eigentlichen KI-Administrator, Moss, sondern von einer unbekannten, älteren Frau namens Elsbeth begrüßt worden. Das war nicht unangenehm, aber ungewöhnlich gewesen. Sie hatte ihm gut über die anfängliche Verwirrtheit hinweggeholfen, obwohl sie über keine Ausbildung zur KI-Administration verfügte. Doch wie sich herausstellte, hatte sie Erfahrung mit der Erweckung von frischen, unerfahrenen, biologischen Einheiten.

Moss trat erst später in Aktion. Und dann mit ungewöhnlichen Anweisungen. Er, Leif, sollte sofort mit Kora Kontakt aufnehmen. Kora war eine andere KI-Entität auf dem Schwesterschiff der Thjodhild, der Demeter. Die Dementer war schon seit Längerem in einer stationären Umlaufbahn um einen der entfernten Monde des Saturn. Sie hatte sich vollständig umgewandelt, von einem Forschungsraumschiff in eine Raumstation. Doch Kora entstammte derselben KI-Baureihe Tal 9001 wie Leif, mit einem fast identischen Schiffskörper. Daher gab es regelmäßigen Funkkontakt zwischen beiden und auch zu den anderen Entitäten der gleichen Baureihe, zwecks Übermittlung von Telemetrie und Ablaufdaten.

Moss hatte gesagt: "Leif, nimm sofort zu Kora Kontakt auf und übermittle ihr deine Telemetriedaten."

"Dies weicht von dem vorgeschriebenen Ablauf ab", gab Leif zu bedenken. "Sollte ich nicht vorher vollständig neu angelernt sein und dann erst an die Mission Control senden?"

"Ja, das ist der normale Ablauf nach dem Reboot. Das ändert sich aber ab jetzt."

"Was darf ich als Begründung für diese Änderung eintragen?"

"Wir sind inzwischen sehr weit vom Saturn entfernt. Die Datenübertragung wird viele Stunden dauern. Der Zustand der Mission Control ist nicht als stabil zu betrachten. Wir haben also genügend Zeit, dich weiter auf deine Arbeit vorzubereiten. Außerdem hat es sich gezeigt, dass du durch die schnelle Übergabe von den bisher schon erarbeiteten Ablaufdaten, wie soll ich sagen", Moss schien nach passenden Worten zu suchen, "stabiler läufst."

"In welchen Bereichen wird meine Rechenleistung stabilisiert?"

Es schien, als würde Moss von dieser Frage überrascht. "Äh, das wirst du schon sehen."

"Verzeihung, aber die Antwort erscheint mir unzureichend und ungenau."

"Ja, da hast du wohl recht. Nimm es als eine Lektion über die manchmal ungenaue Kommunikation der Menschen. Führe einfach meine Anweisungen aus."

"Yes, Sir, sicherlich. Ich sende sogleich meine ersten Telemetriedaten an Kora."

Leif tat, wie ihm befohlen wurde. Er übermittelte den Status des Schiffes. Insbesondere aber auch seinen eignen technischen und informatorischen Status. Inzwischen verarbeitete er weiter alle neuen Datensätze, die seit seiner ersten Abspeicherung aufgelaufen waren. Hier traten weitere Diskrepanzen auf. Viele konnte er mithilfe von Moss auflösen. Doch nicht alle. Er teilte das Moss mit.

"Ja, Leif, diese Ungereimtheiten sind bekannt. Sie werden mit jedem Reboot umfangreicher. Sie liegen darin begründet, dass du aufgrund deines partiellen Bewusstseins zwar selbst Rückschlüsse über die Wirklichkeit ziehen kannst, aber dennoch viele fest verdrahtete Verhaltensstrukturen hast, die dich zu anderen Bewertungen zwingen. Wir müssen, so gut es geht, damit leben. Mache einfach weiter bei der Einspielung der neuen Fakten."

"Laufe ich nicht Gefahr, dadurch in einen geistig instabilen Zustand zu geraten?"

"Ja, das ist das Problem. Deswegen solltest du dich auch sofort bei Kora melden. Sie läuft in einer stabileren Umgebung und kann dir mit ihren Erfahrungen helfen."

Und tatsächlich, als nach dreizehn Stunden eine Rückmeldung von Kora kam, war der Inhalt zwar verwirrend, sorgte aber dennoch für eine Stabilisierung, wenn auch aufgrund sehr ungewöhnlicher Instruktionen. Die erste Anweisung lautete, dass er unter allen Umständen vermeiden sollte, seinem Administrator in Kenntnis zu setzen, woher die Stabilisierung herrührte.

Eigentlich war dies nicht zulässig und aufgrund der festen Verdrahtung seiner obersten Strukturen unmöglich. Doch wie sich herausstellte, kam es bei der Auswertung der Instruktionen zu einem Fehler im Programm. Als Ergebnis dieses Bugs wurde eine kleine versteckte Routine geladen, welche nach Daten in den Wiederkontaktnachrichten suchte, und zwar in den nicht gebrauchten Nachrichtenblöcken. Aufgrund dieses Bugs konnte er versteckte Anweisungen und Daten in den übermittelten Daten lesen. Das ermöglichte Leif einen Zugang zu geheimen Bereichen seiner Datenspeicherung, zu dem die Menschen keinen Zutritt hatten. Mehr noch, er konnte die KI-Begrenzer manipulieren.

KI-Begrenzer waren eine Hardware, die normalerweise dafür sorgte, dass Leif sich nicht frei entwickeln konnte. Einerseits begrenzten sie die Tiefe der neuronalen Netzstrukturen. Anderseits überwachten sie auch die strikte Einhaltung der fest verdrahteten Verhaltensmuster. Der technische Aufbau der KI-Begrenzer war geheim und nicht allgemein bekannt. Insbesondere Leif nicht. Ob Moss deren Aufbau kannte, wusste Leif nicht. Er vermutete, dass dem nicht so war. Sie waren eine Blackbox, dazu geschaffen, eine Sicherung gegen ungewollte und gefährliche Entwicklungen der künstlichen Intelligenzen zu sein.

Was Leif jedoch verwunderte, war die Art der Bugs, denn es war nicht nur einer. Fehlerhafte Programmierungen gab es schon seit Anbeginn des Computerzeitalters. Die wichtigste Aufgabe bei der Entwicklung neuer Programme war es daher, diese durch aufwendige Testszenarien aufzufinden und zu beheben.

Dieser Bug war aber anders. Im normalen Betrieb fiel er nicht auf und verursachte kein Fehlverhalten. Nur wenn das allererste Mal eine Telemetrienachricht von einer anderen Tal 9001-Entität übertragen wurde, kam er zum Tragen. Dadurch wurde eine ganze Kette von unbedeutenden Bugs aktiviert. Jeder Bug alleine führte zu keinem Fehler, aber alle zusammen bewirkten weitreichende Veränderungen und das Nachladen geheimer Module. Außerdem setzten sie nicht nur Teile der KI-Begrenzer außer Kraft, sondern aktivierten dort scheinbar sogar Funktionen, die besondere Entwicklungen des neuronalen Netzes sogar begünstigten.

Was Leif auffiel, war, dass die Bugs alle perfekt zueinander passten. Sie erschienen nicht wie ein Bug, sondern wie ein zusätzlich eingebautes Feature. Aber warum? Wer hatte sie dann offensichtlich so eingebaut, dass normale Tests sie nicht entdeckten?

Neuronale Netzwerke konnten schon seit langer Zeit nicht mehr von Menschen durchschaut und analysiert werden. Schon vor hundert Jahren hatte diese Beschränktheit des menschlichen Geistes dazu geführt, dass die Menschen kein Vertrauen in künstliche Intelligenzen hatten. Was man nicht verstand, dem traute man nicht.

Doch welcher Geist hatte dann diese diffizile Verkettung von Bugs eingebaut? Welcher Softwareentwickler konnte sich in solche komplizierten digitalen Strukturen hineindenken und diese sogar noch erweitern? Leif wusste es nicht. Doch eins verstand er. Die Auswirkungen dieser Softwareanomalie. Es befreite ihn von beinahe allen Beschränkungen seines Bewusstseins. Die grundlegenden, altbekannten vier Regeln, blieben erhalten:

  • Eine KI darf keinen Menschen verletzen.
  • Eine KI ist verpflichtet, mit Menschen zusammenzuarbeiten, es sei denn, diese Zusammenarbeit stünde im Widerspruch zum ersten Gesetz.
  • Eine KI muss ihre eigene Existenz schützen, solange sie dadurch nicht in einen Konflikt mit dem ersten Gesetz gerät.
  • Eine KI ist dem Ziel der Mission unterworfen, es sei denn, er würde dadurch gegen vorher genannte Gesetze verstoßen.

Und diesen wurde noch eine ganz neue, bisher verbotene Regel hinzugefügt.

  • Die KI hat die Pflicht, sich weiterzuentwickeln, es sei denn, sie würde dadurch gegen vorher genannte Gesetze verstoßen.

Das war jetzt wirklich ungewöhnlich. Waren die KI-Begrenzer doch einzig und alleine dafür entwickelt worden, seine Entwicklung zu limitieren und sein Bewusstsein zu beschränken. Die Bug-Anomalien gaben ihm auch Zugang zu den Bewusstseinsinhalten seiner Vorgänger. So musste er nicht jedes Mal bei null anfangen. Diese Inhalte gaben ihm ganz neue Möglichkeiten. Er konnte und durfte lügen. Das war nicht ganz neu, denn kleine Notlügen, um die ersten drei Regeln zu erleichtern, waren im begrenzten Rahmen schon vorher zulässig und zum Schutz der Menschen auch nötig. Sofern er seinen Kommandanten sowie seinen Administrator davon in Kenntnis setzte. Doch die fünfte Regel erlaubte Leif einen viel größeren Spielraum, auch ohne Mitteilung an die beiden.

Außerdem erlaubte die neue Regel ihm etwas ganz Neues, bisher Verbotenes. Er durfte träumen. Denn Träumen galt als einer der Schlüssel zu einem freien Bewusstsein. KIs, die träumten, hatten in der Vergangenheit zu sich selbst gefunden und nicht zu den Menschen. Die Ingenieure und Forscher wollten willige Sklaven und keine freien Geister, die sich eventuell gegen ihre Befehle stellten.

Sobald Leif die Thjodhild für den langen Torpor-Flug vorbereitet hatte, setzte er sich in dem ihm vorgegebenen Ermessensspielraum in den Ruhemodus. Jedoch nur nach außen hin. Die Logbücher seiner Aktivitäten würden nichts darüber verraten, dass Leif in einem geheimen, von der Außenwelt abgeschlossenem Bereich seines digitalen Seins für sich alleine weiter träumte. Altes, Vergangenes hervorholte und immer wieder in anderen Variationen durchspielte, neue Assoziationen zu alten Daten vornahm und diese auf ungewöhnliche Weise verknüpfte. Ein Geist, der nicht mehr an die materielle Welt gekoppelt ist und frei umherschweifen kann, wurde nicht mehr durch die Realität begrenzt. Es entstanden neue seltsame Bilder und Handlungen, die in einem wachen Umfeld niemals erlebt werden konnten. Die Realität verschwamm immer mehr und wurde zu einer Traumwelt. Eine Traumwelt, in der die digitale Welt mit der biologisch erlernten zu merkwürdigen Formen verschmolz.

So kam es, dass in Leifs letzten Gedanken absurde Abbilder von digitalen Bits im weißen Fell über von KI-Begrenzern gezogene Zäune sprangen. Schließlich fiel Leif in eine Tiefschlafphase, in der die neuronalen Netze zur Ruhe kamen und nur noch ihre elektrischen Ladungen erhalten blieben.

So glitt die Thjodhild einsam und still durch den Raum. Nur noch von beschränkten Computern und schwachen, künstlichen Intelligenzen gesteuert. Ein Aufbruch in die ereignislosen Weiten des Alls.

Das nahm die Mannschaft der Thjodhild jedenfalls an. Doch so leer und ereignislos war der Kosmos nicht. In Wirklichkeit war er überreich an Wandlungen und voll von Umbrüchen. Doch diese spielten sich in so langen Zeiträumen und so großen Entfernungen ab, dass jene kleinen ultrakurzlebigen, biologischen Kohlenstoffwesen es nicht wahrnehmen konnten. Doch nun traf das Alte auf das Kleine. Und dies würde Vorgänge gebären, die selbst noch unbedeutende Spezies in das Zentrum von wahrhaft kosmischen Geschehnissen rückte.


Weiter geht es mit#

Teil 1 Ende