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Kap.1.16 Pestparty#
Er wandelte durch den Gang zwischen den Gondeln in Richtung seiner Kabine. Die Visoren an den Wänden projizierten Polarlichter, die sanft und hypnotisch über vertraute Eislandschaften zogen. Obwohl sie Bilder seiner irdischen Heimat zeigten, nahm er sie kaum wahr. Er spürte einen Rausch, der seinen Körper zugleich entspannte und erregte. Stellenweise taumelte er leicht. Ein Feuerwerk der Empfindungen durchzuckte sein Gehirn. Immer wieder überrollten ihn Nachbeben absurder Szenen, Eindrücke, Gerüche, Tonfetzen. Obwohl er keinen einzigen Schluck Alkohol getrunken hatte, fühlte er sich betrunken.
Was ihn aber am meisten berührte, war das Brennen seiner Seele. Eine tiefe Verbundenheit zu seinen Freunden. Plötzlich waren sie nicht mehr nur Crewmitglieder auf einer Forschungsreise. Er hatte sie alle nackt gesehen – nicht die körperliche Nacktheit, wie sie ihm aus der Sauna vertraut war, sondern entblößt von den Masken, die sie sonst trugen. Ohne Eitelkeiten, ohne Ängste. Ihre menschlichen Bedürfnisse lagen offen vor aller Augen, wurden akzeptiert und erfüllt. Dieses Bild hätte pure Schönheit sein können.
Doch seine Seele loderte weiter. So sehr, dass er gegen aufsteigende Tränen ankämpfen musste. Denn bei aller Lebensfreude, die er eben gesehen hatte, war es eine Abschiedsfeier gewesen. Ein letztes Aufbäumen gegen das unvermeidliche Versinken in einem dunklen, modrigen Verließ des langsamen Siechtums. Vorher befreit davon, sickerten nun seine eigenen Ängste wieder aus den Rissen seines Geistes. Selbstmitleid überkam ihn und überzog ihn mit Traurigkeit. Doch dem wollte er sich nicht ergeben – nicht jetzt, nicht nach dieser Nacht.
Party war eigentlich nicht das richtige Wort. Es war keine bloß fröhliche Feier gewesen, sondern eine Verabschiedung vom Leben selbst. Elsbeth hatte die Idee der Pestparty mit Leif entwickelt – inspiriert von den Festen während der Seuchen des Mittelalters. Ihre Absicht war klar: noch einmal Licht in die Seelen der Crew zu bringen, bevor sie wieder in die Dunkelheit des Torpors abtauchten. Ein letztes, trotziges Aufbäumen vor dem Unvermeidlichen. Misha war sofort begeistert gewesen und hatte die Mannschaft mitgerissen. Er hatte eine einzige Regel verkündet: Es würde keine Regeln geben. Alles war erlaubt – keine Fragen, keine Antworten, keine Hierarchien. Nur das pure, unverstellte Leben zählte.
Er wankte weiter durch den Gondel-Gang. Die Tür zu seiner Kabine glitt rechts an ihm vorbei. Eigentlich hatte er dorthin gewollt. Er warf einen kurzen Blick auf das Schott, als er vorbeiging. Noch war der Moment nicht gekommen, es zu durchschreiten. Sein Körper und sein Geist verlangten nach Bewegung. Der Gedanke, jetzt ruhig in seiner Koje zu liegen, während Gedankenblitze durch seinen Kopf zuckten, erschien ihm unerträglich. Also setzte er seinen Weg fort – durch den Gang, der weiterhin von langsam wabernden Polarlichtern an den Wänden erleuchtet wurde. Fast eineinhalb Kilometer lagen noch vor ihm, einmal rund um den Torus, bis er wieder vor dem Schott der wüsten Endzeitparty stehen würde.
Plötzlich überrollte ihn wieder der intensive Geruch des Partyraums – eine Mischung aus verschüttetem Alkohol, dichten Marihuanaschwaden und dem unverkennbaren Duft von verschwitzten Menschen. Die Partymusik dröhnte in seinen Ohren, und lebhafte Momentaufnahmen flackerten vor seinen Augen: Moss, der tanzend mit einer Flasche in der Hand laut den Trinkspruch der Nacht grölte; Kiyoe, deren schlanker Körper in halb nackter Schönheit elfengleich im Rhythmus der Musik schwang; Lu, die von Tränen überwältigt an Mishas Brust Zuflucht gesucht hatte; Angelique und Elsbeth, die lachend und tobend Hand in Hand durch den Raum wirbelten; und Misha, der starr und verloren mit seinem Wodkaglas in eine dunkle Ecke blickte, bis Angelique ihn spielerisch zu Boden zog und er den Inhalt seines Glases lachend im Gesicht verteilte, bevor er aufsprang und mit voller Stimme den gemeinsamen Trinkspruch hinausschmetterte. Und schließlich sah er sich selbst: am Rand des Geschehens, still, fröhlich, melancholisch, wie er seinen Freunden mit seinem Saftglas zuprostete.
Die Marihuana-Tüten hatte er dankend abgelehnt. Rauchen war noch nie etwas für ihn gewesen, erst recht nicht in Verbindung mit Drogen. Davon hatte er sich stets ferngehalten. Doch als die Marihuanaschwaden den Raum durchzogen, konnte er ihnen nicht völlig entkommen. Er wollte bei seinen Freunden bleiben, also nahm er es hin.
Elsbeth hatte wunderbare Kekse gebacken. Er hatte bereits mehrere davon gegessen, als Moss ihn plötzlich mit einem schelmischen Grinsen aufklärte, dass diese ganz spezielle Kekse seien. Von diesem Moment an nahm der Abend auch für ihn eine völlig ungewohnte Wendung – die erste dieser Art in seinem Leben.
Vor seinen Augen verwandelte sich der Gang ins Aikido-Dojo. Wie zuvor der Partyraum war es festlich geschmückt, mit bunten Laternen und glitzernden Bändern. An den Wänden standen Tische, die sich unter erlesenen Speisen, Süßigkeiten und Häppchen aus den unendlichen Vorräten der Thjodhild bogen. Soßen tropften bereits auf die wertvollen Tatamis am Boden, und Marihuanaschwaden waberten träge durch den Raum. Er musste sich an der Wand abstützen, sonst hätte er sein Gleichgewicht verloren. Wie verzaubert sah er Kiyoe zu, die mit einem glänzenden Katana einen anmutigen Schwerttanz vollführte. Elsbeth trat näher, schob ihm einen ihrer Kekse in den Mund – und löste sich dann vor seinen Augen in Liebe auf.
Er ging weiter. Vorbei an seinen neu gewonnenen lebenden, toten Freunden, die ihm zuprosteten und mit aller Inbrunst ihren Trinkspruch entgegenschrien.
„Für das, was wir waren – und für das, was wir nie sein werden.“
Er fiel ein in den Auswurf des Sarkasmus und schrie lauter und lauter, bis ihm die Stimme versagte und die Kehle schmerzte.
Jetzt stand er in einem der Verbindungsflansche zwischen den Gondeln, die Arme weit ausgestreckt, um sich links und rechts an den gebogenen Wänden abzustützen. Die Oberfläche unter seinen Handflächen war kalt – wie immer in diesen schmalen Verbindungstunneln. Heftig schüttelte er den Kopf, um den verwirrenden Nebel aus seinem Denken zu vertreiben.
Doch dann, wie aus dem Nichts, erschien plötzlich sein Vater, wie er völlig betrunken in seiner dünnen schwarzen Lederjacke, auf die er so stolz gewesen war, durch die eisige Polarnacht stolperte. Am Himmel lösten sich leuchtende Himmelsbänder in wirbelnden roten und gelben Farben auf und formten das traurige Bild seines Vaters, der langsam auf dem vierzig Grad minus kalten Boden niedersank. Mit einer Flasche billigen Fusels in der Hand nahm dieser einen letzten tiefen Schluck, bevor er langsam ins Dunkel hinüberglitt. Er verspürte tiefe Wehmut und zugleich bittere Wut darüber, seinen Vater so zu sehen. Niemals schwor er sich innerlich, würde er so enden. Er begann zu weinen, und sein Schluchzen nässte das Oberteil seiner Mutter ein, die ihn verzweifelt an ihre warme Brust drückte. Ihr vertrauter, würziger Geruch nach Robbenfleisch ließ ihn kraftlos auf die Knie sinken.
Als ihm Rotz aus der Nase lief, wischte er ihn mit dem Stoff seines T-Shirts ab. Er versuchte, sich zu beruhigen. Das durfte nicht sein – er wollte diesem Rausch nicht weiter erliegen, auch wenn er nicht vom Alkohol kam.
Langsam erhob er sich wieder und drehte sich um. Er musste etwas Klares und Reines zu sich nehmen, wollte wieder der alte, ruhige, besonnene Jäger Qaaqqukannguaq sein – ein Abbild seines Großvaters, seines großen Vorbildes. „Reiß dich zusammen“, peitschte er sich innerlich an. Er durchschritt erneut das Aikido-Dojo. Jetzt, sauber und ordentlich, lag es in edler Stille vor ihm. Der Raum strahlte Ruhe und Disziplin aus und half ihm, sich wieder zu beherrschen. Die beruhigende Atmosphäre nahm ihn gefangen, brachte jedoch zugleich die grausame Wahrheit wieder deutlich in den Vordergrund seiner Gedanken.
Sie hatten alle gemeinsam beschlossen, wieder in den Torpor zu gehen. Dort waren sie geschützt vor der kosmischen Strahlung, die sie sonst langsam zersetzen würde. Niemand wollte die Tortur eines erneuten Erwachens auf sich nehmen, nur um für wenige Minuten den Vorbeiflug an Pluto zu betrauern. Sie würden sich stattdessen weiter hinaus in den Kuipergürtel treiben lassen – in der Hoffnung, dass Leif einen wasserhaltigen Himmelskörper aufspüren würde. Viel Wasser hatten sie beim Start nicht mitnehmen können, das hätte zu viel Treibstoff gekostet.
Vielleicht ließ sich nun unterwegs genug Eis gewinnen, um die Wassertanks der Gondeln zu füllen – und ihnen wieder Schutz vor der Strahlung zu bieten.
Danach konnten sie erneut dahinvegetieren, langsam in der unendlichen Leere vergehen, bis der Tod sie schließlich erlöste.
Kaum hatte er das Dojo verlassen, überkam ihn wieder die bittere Verzweiflung. Doch er zwang sich, die Gedanken umzulenken – zurück zur Party, zurück zu den lebensfrohen Szenen, die noch nicht ganz verblasst waren.
Die letzten Momente, bevor er gegangen war, erschienen ihm lebhaft vor Augen – schöne und zugleich erregende Eindrücke. Nach der anfänglichen Wildheit der Feier hatten alle eine tiefe Erschöpfung ergriffen. Angelique hatte ihnen vorsorglich ein geheimnisvolles Pulver gemischt – etwas, das nicht ganz nüchtern machte, aber den Rausch sanft dämpfte und ihnen erlaubte, die Feier bewusster zu erleben. Er hatte es aufgrund seiner Abneigung gegen Rauschmittel nicht genommen, was sich inzwischen als Fehler erwies. Seine Gefährten aber hatten es konsumiert und sich dadurch in eine ruhige, genussvolle Stimmung versetzt.
Von diesem Zeitpunkt an nahm die Abschiedsparty einen sinnlicheren Verlauf. Im Laufe des Abends bildeten sich Paare, die sich zunehmend körperlichen Bedürfnissen hingaben. Lu und Kiyoe lagen bequem auf einem der Sofas und kuschelten liebevoll miteinander, zumindest zu Beginn. Angelique kümmerte sich zunächst mütterlich um Misha, nachdem er sich bekleckert hatte, doch bald darauf bedeckte sie ihn zunehmend mit ihren Küssen. Dass Moss und Elsbeth irgendeine Art von Beziehung begonnen hatten, war allen bereits aufgefallen, doch nun bekannten sie sich offen dazu und suchten intensive körperliche Nähe. Einzig der Inuit blieb allein, war jedoch trotzdem fröhlich.
Er hatte sich bereits leise verabschieden wollen, ohne Aufhebens darum zu machen, um die Liebenden nicht zu stören.
Elsbeth hatte seine Hand genommen und ihn zu sich gezogen. Sein Freund Moss lächelte warm und auffordernd. Mit süffisantem Blick beteuerte sie, er müsse nicht allein bleiben, sie sei genug Frau für zwei Männer. Was er ihr mit jeder Silbe sofort glaubte. Moss forderte: "Komm zu uns".
Doch er wollte allein bleiben – ein anderes Bild in seinem Geist zog ihn fort, hin zu seiner Kabine. Die Vorstellung seiner Geliebten, die er nie wieder fühlen oder berühren könnte. Über Milliarden von Kilometern hinweg sehnte er sich nach Valima: nach ihrer Wärme, ihren tiefen Augen, ihren weichen, vollen Brüsten. Er glaubte, ihren Geruch fast körperlich wahrnehmen zu können.
Und so beugte er sich hinab und küsste Elsbeths Hand liebevoll. Mit der anderen verschränkte er kurz die Finger mit Moss – ein stummer Moment der Nähe –, bevor sich ihre Hände wieder voneinander lösten.
Er zögerte kurz. Dann flüsterte er: „Danke, meine Lieben. Aber ich kann nicht. Valima wartet.“
Er drehte sich noch einmal um, kurz bevor er den Raum verließ. Diesen Moment wollte er für immer in sich tragen – als Bild in seinem Innersten und als Erinnerungsfoto, festgehalten durch sein Neural-Interface.
Moss blickte ihm warm und wissend nach. Elsbeths Augen folgten ihm voller Liebe bis zuletzt.
Mishas Kopf ruhte in Angeliques halb geöffneter Bluse, eingebettet zwischen ihren üppigen Brüsten, während sie ihn mit leuchtenden Augen und beiden Händen langsam hin und her bewegte.
Eine völlig nackte Lu, mit ihren kleinen, festen Brüsten, lag mit Kiyoe unter ihr auf einem Sofa. Befreit von aller ihrer Strenge, entblößt bis auf ihre empfindliche und verletzliche Seele, schmiegte sie sich an Kiyoes weichen Busen und bedeckte ihn mit zärtlichen Küssen. Kiyoe streichelte ihren Körper mit ruhiger Hand, sah ihn dabei mit einem entrückten Lächeln an – und winkte ihm leise zum Abschied.
Mit diesen berührenden Bildern, noch immer Kopf, fand er sich plötzlich vor seiner Kabinentür wieder. Als sie sich lautlos öffnete, schlug ihm der vertraute, warme Duft seines Raumes entgegen. Er brauchte etwas Reines, etwas, das seinen aufgewühlten Geist klären konnte. Aus einem kleinen Lederbeutel zog er die Specksteinrobbe Nattiq, hielt sie an seine Nase und sog den feinen Hauch von Lebertran tief ein. Dann griff er in seinen persönlichen Vorrat und holte einen Beutel mit einer kühlen, klaren Flüssigkeit hervor.
Auf seinem Visor erschien der Jupiter – riesig, majestätisch, funkelnd im All. Das Bild glitt langsam näher und fuhr zielstrebig auf die Station Yael zu, die still im Orbit um Europa schwebte. Ohne Übergang drang die Kamera durch die Stationswände und fand eine Frau mit blonden, lockigen Haaren. Ihr Gesicht war von betörender Schönheit, und als das Bild näher rückte, glitt es in ihre Augen hinein, bis nur noch die blaugraue Iris die Sicht erfüllte.
Mit diesem Anblick vor Augen nahm er einen tiefen Schluck aus dem Beutel. Gletscherwasser – echtes Wasser von der Erde. Ein Abschiedsgeschenk von Valima. Für sie war es nur ein Zeichen des Wohlstands gewesen. Für ihn eine Verbindung zu seiner Heimat, ein Symbol für die Reinheit und Wahrheit der Natur. Die kalte Klarheit durchströmte ihn, kühlte seine Gedanken, beruhigte sein Herz. Zwei Welten hatten sich für einen Moment berührt – nicht durch Worte, sondern durch eine Geste. Er schloss die Finger fester um Nattiq.