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Kap.1.3 Schlechte Nachrichten#
Misha hatte gehofft, seiner erschöpften Mannschaft mehr Zeit zur Erholung geben zu können, bevor er ihnen die schweren Nachrichten überbrachte. Das erwies sich jedoch als unmöglich. Nicht nur blieben die physikalischen Gegebenheiten der Thjodhild nicht verborgen, auch die Informationssperre über das Datennetz, die er Leif auferlegt hatte, führte zu starker Verunsicherung in der Mannschaft. Er hatte versucht, sie mit einer beruhigenden Ansprache hinzuhalten, doch das verschlechterte die Gefühlslage eher.
Nun gut, es ließ sich nicht mehr hinauszögern. Er berief alle in den Besprechungsraum im ersten Torus.
Sein Zögern hatte einen weiteren Grund. Als Kommandant war er verantwortlich für die gute Verfassung seiner Mannschaft und für den Erfolg der Mission. Angesichts der Nachrichten, die er überbringen musste, war es unmöglich, diese Anforderungen zu erfüllen. Sicher, die Ereignisse lagen nicht in seiner Hand, doch die bevorstehende Aufgabe ließ sein Scheitern unausweichlich erscheinen.
Misha war ein erfahrener Kommandant, weshalb man ihn für diese Mission ausgewählt hatte. Im Laufe seines Lebens hatte er viele schwierige Situationen gemeistert, doch auf die jetzigen Umstände wäre niemand vorbereitet gewesen.
Eine Expedition in den Weltraum war gefährlich und konnte mit dem Tod enden. Alle, außer Elsbeth vielleicht, waren sich dieser Konsequenz beim Antritt der Reise bewusst gewesen. Doch was er seiner Mannschaft nun mitteilen musste, war anders. Es war nicht nur katastrophal, es war der Untergang von allem, was den ihm untergebenen Menschen bedeutsam war.
Wie konnte er der Crew diese Nachrichten schonend beibringen? Er wusste nicht einmal, wie er selbst damit klarkommen sollte. In den letzten Stunden hatte er sich den Kopf zermartert, doch weder Klarheit noch Gemütsruhe hatten sich eingestellt. So verzweifelt er auch war, wollte er dies doch nicht zeigen. Er musste seiner Mannschaft jetzt Stärke geben. Wie sollte er das angesichts seiner eigenen Hoffnungslosigkeit schaffen?
Die ersten Mannschaftsmitglieder trafen ein. Unter normalen Umständen wäre er ihnen entgegengegangen und hätte sie freundlich begrüßt. Doch diesmal konnte er es nicht und stand nur auf. Ein schiefes Lächeln und eine höfliche Einladung, Platz zu nehmen, waren alles, was er zustande brachte. Angelique wollte ihn liebevoll in den Arm nehmen, doch er ließ es nicht zu und bat sie, sich zu setzen. Seine Reserviertheit war allgewärtig. Eine dunkle und gedrückte Stimmung machte sich breit.
Als die Crew Platz genommen hatte, bemerkte Misha, dass Elsbeth fehlte. „Wo ist Elsbeth? War sie nicht bei euch?“
Sie sahen sich fragend an, bis Moss sagte: „Sorry, aber vor dem Torpor hast du Elsbeth gesagt, dass du sie bei den Besprechungen der Crew nicht dabeihaben möchtest, weil sie nichts beitragen könne.“
Misha seufzte schwer. „Ja, das habe ich gesagt. Dieses Mal meinte ich jedoch wirklich alle.“ Mit einem Seitenblick in die Luft befahl er: „Leif, weise Elsbeth an, schnellstmöglich in den Besprechungsraum zu kommen.“
Misha dachte: ‚Mist, diese Frau macht nur Scherereien. Wie soll ich jetzt die Lücke füllen, bis sie endlich hier erscheint? Nicht nur, dass sie mir mit ihrer unerlaubten Gegenwart die ganze Mission durcheinanderbringt, nein, jetzt ruiniert sie mir auch noch den schwierigen Moment als Kommandant.‘
Er rief sich zur Ruhe. Sein Ärger über diese Frau durfte ihn nicht ablenken, und so versuchte er, bis zu ihrem Eintreffen eine Überleitung zu finden. „Bitte entschuldigt, dass ich euch hingehalten habe, aber ich wollte unbedingt, dass ihr gut erholt in diese Besprechung kommt. Was ich euch mitteilen muss, erfordert unser aller bestmögliche Verfassung. Seid ihr angenehm aus dem Torpor erwacht? Gibt es irgendwelche Beschwerden?“
Er sah allen einzeln in die Augen, in der Hoffnung, dass jemand etwas sagen würde, was die Verzögerung erträglicher machen würde. Doch alle schwiegen. Also versuchte er, Zeit zu schinden, indem er sein eigenes Unbehagen während des Aufwachvorgangs beschrieb. Allen war klar, dass er nur das Warten überbrückte, und so erschien es peinlich und unangebracht.
Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis Elsbeth eintrat und stockend sowie kleinlaut hervorbrachte: „Tschuldigung, ich wusste nicht, dass ich auch kommen sollte. Ich dachte …“
Misha unterbrach sie. „Schon gut, setz dich. Bei dieser Besprechung müssen alle dabei sein, sogar du.“ Er versuchte, dies in einem möglichst normalen Ton zu sagen. Es misslang ihm. Schon wieder sorgte diese Elsbeth für Verärgerung. So eine Stimmung konnte er nicht gebrauchen; er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren.
Misha begann: „Ich muss euch zwei schlechte Nachrichten von erheblicher Tragweite mitteilen. Ich habe lange darüber nachgedacht, welche Worte die besten sind. Es gibt keine …“
Er holte tief Luft. „Ich habe Nachrichten von der Erde. Es handelt sich nicht um einen direkten Funkspruch, sondern nur um allgemeine Informationen aus den regelmäßigen Datenupdates. Diese sind nicht sehr ausführlich und eher ungenau. Auch hat sich die Missionskontrollstation auf der Jupiter-Station noch nicht gemeldet. Auf der Erde hat es offenbar einen schweren Zwischenfall gegeben. Wie ihr wisst, war die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Situation in letzter Zeit sehr angespannt. Wir alle haben gehofft, dass sich diese Verwerfungen, wie auch in der Vergangenheit, durch die Vernunft unserer politischen Führungen bewältigen lassen.“
Er macht eine Pause. „Haben sie nicht. Die Vernunft hat versagt.“
Misha machte eine Pause, weil er seinen Worten Raum lassen wollte. Schließlich sagte er in den Raum: „Bitte, Leif, du hast den besten Überblick. Gib uns eine Zusammenfassung der Geschehnisse auf der Erde.“
„Die ersten Meldungen erhielt ich vor etwa zwei Wochen. Sie waren ungenau und widersprüchlich. Langsam haben sich die Informationen jedoch konkretisiert. Wie bekannt ist, haben sich die klimatischen Bedingungen auf der Erde immer weiter zugespitzt. Große Teile der niederen Küsten sind bis weit ins Landesinnere überschwemmt. Frühere Vorhersagen über den Anstieg der Meere waren zu optimistisch. Auf dem verbliebenen Land drängen sich inzwischen über elf Milliarden Menschen. Die riesigen Migrationsströme haben die Gesellschaften völlig destabilisiert, trotz der verheerenden Seuchen in der Vergangenheit, ob absichtlich herbeigeführt oder nicht. Der Druck hat wohl ein Ventil gesucht und gefunden. Es gab eine weitere Pandemie, die durch die Erfahrungen der Vergangenheit und die getroffenen Vorsichtsmaßnahmen nicht ganz so verheerend war wie befürchtet – nur fünf Prozent der Menschen starben daran. Entscheidend ist, dass wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig nachweisen konnten, dass diese letzte Seuche im Labor entstand und absichtlich in die Welt gesetzt wurde. Obwohl die Verursacher nicht ausfindig gemacht werden konnten, gab es politische Anschuldigungen und Eskalationen, was zu weltweiten kriegerischen Aktionen führte. Es kam zum ersten begrenzten Einsatz von Nuklearwaffen seit dem Dritten Weltkrieg vor beinahe neunzig Jahren. Auch wenn dieser Krieg, der wohl immer noch andauert, eine unbekannte Anzahl an Menschenopfern gefordert hat, ist es in jüngster Zeit zu einer weiteren militärischen Aktion gekommen.“
Leif machte eine Pause, wahrscheinlich weil er wahrnahm, dass die Menschen seinen letzten Ausführungen nicht mehr ruhig folgen konnten. Die Mannschaft zeigte alle Variationen menschlicher Reaktionen – Stöhnen, kaltes Entsetzen, wütende Äußerungen und ungläubiges Erstarren –, während Misha in seinem Sessel scheinbar ruhig blieb. Er wusste, dass dies erst der Anfang der schlechten Nachrichten war. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob es wirklich klug gewesen war, alle Neuigkeiten auf einmal zu verkünden. Wie würden sie auf die weiteren Meldungen reagieren? Doch wie hätte er es zurückhalten können? Er konnte seiner Mannschaft nicht auf Dauer verbieten, die Kommunikationskanäle zu benutzen.
Daher versuchte er, in einem bestimmenden Kommandoton auf seine Crew einzuwirken. „Ruhe! Bitte beruhigt euch. Lasst Leif weiter berichten. Er ist noch nicht am Ende.“
Als wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war, fuhr Leif fort: „Ich erwähnte bereits, dass es zu einem weiteren Zwischenfall gekommen ist. Wie ihr wisst, ist der Orbit schon seit Langem völlig überfüllt mit vielen Hunderttausenden künstlicher Trabanten. Auch wenn die Bemühungen zur Beseitigung von Weltraummüll im letzten Jahrhundert große Erfolge brachten, stieg die Dichte neuer und alter Satelliten sowie deren Überbleibsel zuletzt auf eine kaum noch zu beherrschende Anzahl. Daher hat die Explosion vieler künstlicher Trabanten zum Kessler-Effekt geführt.“
Moss warf erregt ein: „Aber dafür wurden doch weltweite Abkommen geschlossen! Jeder wusste, dass es eine Katastrophe für alle bedeutet, wenn es zu kriegerischen Handlungen im Orbit kommt. Sind die denn völlig durchgedreht? Der Kessler-Effekt zerstört die gesamte menschliche Zivilisation, nicht nur ein einzelnes Land.“
Durch den aufgeregten Wortwechsel der Crew hindurch verschaffte sich Angelique schließlich Gehör: „Kann mir bitte jemand erklären, was Kessler-Effekt bedeutet? Mir ist das als Ärztin und Psychologin nicht geläufig. Was ist das für ein Effekt? Wieso kann er die gesamte Menschheit zerstören?“
Kiyoe, die Astrophysikerin, setzte zu einer Erklärung an: „Ich habe mich bei der Entwicklung von Computersimulationen einmal ausführlich damit beschäftigt. Der Kessler-Effekt zerstört kein Leben auf der Erde, jedenfalls nicht direkt, aber indirekt. Er ist verheerend für unsere moderne Zivilisation. Der Kessler-Effekt, auch Kessler-Syndrom genannt, beschreibt eine explosionsartige Zunahme von Weltraumtrümmern durch das Zusammenstoßen von kleineren und größeren Bruchstücken im Erdorbit. Satelliten und deren Überbleibsel bewegen sich mit sehr hohen Geschwindigkeiten um die Erde. Wenn zwei Teile zusammentreffen, werden sie in unzählige Stücke zersplittert, die wiederum andere Fragmente treffen und diese erneut in weitere Fragmente zersplittern. Bei der riesigen Anzahl an Weltraumteilen im Erdorbit führt dies zu einer gefährlichen Kettenreaktion, vergleichbar mit den unkontrollierten Folgen einer nuklearen Explosion. Erdnahe Teile verglühen zwar im Laufe der Zeit in der Erdatmosphäre, doch die meisten bleiben für viele Hunderte oder sogar Tausende von Jahren in ihren Umlaufbahnen. Letztendlich werden alle Satelliten und Stationen im Orbit in winzige Teile zerlegt sein, wodurch sich eine undurchdringliche Wolke von Weltraumschrott um die Erde bildet. Dadurch werden nicht nur sämtliche technischen Einrichtungen zerstört, die auf Satelliten basieren, sondern auch das Durchqueren dieser Wolke mit Raumschiffen oder anderen Objekten wird praktisch ausgeschlossen. Die Erde wird dauerhaft vom Weltraum abgeschnitten sein. Das bedeutet auch, dass keine Raumniederlassung jemals wieder Nachschub von der Erde bekommen kann. Von weiteren Auswirkungen, wie die Abschirmung von Funkwellen oder Sonnenlicht, mag ich gar nicht erst anfangen.“
Allenthalben betroffene Gesichter und Schweigen in der Runde. Angelique fasste die Gedanken aller Beteiligten zusammen: „Das ist das schrecklichste und furchtbarste Ereignis in der gesamten Menschheitsgeschichte. Wie soll es jetzt nur weitergehen?“
Lu Wu bewies ihren Hang zur Sachlichkeit: „Was ist mit den Siedlungen außerhalb der Erde? Das chinesische Verwaltungsgebiet auf dem Mars müsste autark sein. Gibt es Nachrichten von dort?“
Leif erwiderte: „Wie zuvor erwähnt, die bisherigen Nachrichten sind nicht vollständig. Daher habe ich nicht sofort reagiert und wollte abwarten, bis sich die Datenlage beruhigt. Bisher konnte ich jedoch keine Beruhigung feststellen. Die Datenkanäle sind voll von widersprüchlichen Funksprüchen. Ich habe natürlich um Bestätigung von der Jupiter-Station gebeten. Bisher keine Antwort. Auch eine Anfrage Richtung Mars oder Mond verlief erfolglos. Ihr wisst, dass die Laufzeiten von Funknachrichten teilweise mindestens zwölf Stunden benötigen. Trotzdem sollte eine Reaktion möglich sein. Ich vermute, alle Weltraumsiedlungen außerhalb der Erde sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass für die Thjodhild keine Aufmerksamkeit übrig bleibt. Es gibt Hinweise auf Unruhen und Ausschreitungen auf allen Kolonien außerhalb der Erde. Teilweise brechen auch schon die Nachrichtenkanäle zusammen.“
Misha stellte erneut große Betroffenheit und entsetzte Gesichter fest, doch das volle Ausmaß ihrer verzweifelten Lage war seiner Crew offenbar immer noch nicht vollständig bewusst.
Misha beobachtete die Crew genau. Angelique hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, ihre Schultern zuckten leise unter unterdrücktem Schluchzen. Lu starrte auf einen Visor, obwohl dieser nichts anzeigte. Die Hände von Moss lagen reglos auf dem Tisch, und er schüttelte ungläubig den Kopf. Die Luft im Raum schien stillzustehen, schwer von der Last der Worte, die gerade ausgesprochen worden waren. Und doch schien das volle Ausmaß ihrer verzweifelten Lage noch nicht bei ihnen angekommen zu sein. Wie sollte es nun weitergehen?
Auch Qaaqqu war Bestürzung anzusehen. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden und einem Ausdruck besorgter Konzentriertheit gewichen. Qaaqqu sah den Kommandanten eindringlich an. „Was ist mit unserer Mission? Hat das Einfluss auf uns? Fliegen wir zurück zum Jupiter?
Moss hinterfragte erregt: „Und dann? Was erwartet uns dort?“
Aufgeregt erwiderte Angelique: „Wir können doch nicht so tun, als wäre alles wie bisher! Kein Mensch interessiert sich jetzt noch für uns oder den Pluto. Die verbliebenen Menschen außerhalb der Erde müssen zusammenhalten und sich gegenseitig helfen.“
Misha fiel der ängstliche Unterton in Kiyoes Stimme auf, als sie einwarf: „Wenn wir zurückfliegen, werden die Menschen versuchen, die Thjodhild und ihre Ressourcen für sich zu beanspruchen. Wohin sollen wir also fliegen? Zur Jupiter-Station oder zu einer Siedlung, die allein nicht überlebensfähig ist?“
Lu ergänzte: „Die Thjodhild ist eines der modernsten Raumschiffe aller Zeiten, ausgelegt, sich selbst zu versorgen und bei Bedarf in eine vollständig autarke Station umgewandelt zu werden. Wir haben viele wertvolle Ressourcen an Bord. Jede Station würde uns mit Freuden willkommen heißen. Ich bin absolut sicher, dass die chinesischen Stationen uns vor allen Übergriffen und Begehrlichkeiten schützen würden.“
„Und wer schützt uns vor den Begehrlichkeiten deiner chinesischen Landsleute?“, gab Kiyoe giftig zurück.
Misha dachte: ‚Ich kann es nicht glauben. Jetzt beginnen die Auseinandersetzungen schon hier bei uns‘. Und bevor Lu zu einer Erwiderung ausholen konnte, sprang er auf. „Schluss damit! Ruhe! Jetzt fangen wir schon an, uns auch zu streiten.“ Und etwas ruhiger fügte er hinzu: „Wir werden nirgendwohin fliegen …“ Er ließ sich schwer in seinen Sessel zurückfallen.
Lu und Kiyoe sahen einander zwar noch gekränkt an, verstummten jedoch. Die anderen blickten verwirrt zu ihrem Kommandanten.
Qaaqqu fragte leise, aber eindringlich: „Was meinst du damit … nirgendwohin …?“ Und als Misha nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: „Du hattest von zwei Nachrichten gesprochen.“
Alle blickten wieder erwartungsvoll zu ihrem Kommandanten.
Der sah ernst in die Runde. „Ja, ich habe eine zweite Nachricht. Eine noch schrecklichere. Es tut mir sehr leid, aber sie ist noch katastrophaler und betrifft uns direkt.“
Diese Ankündigung ließ alle Gesichter vor Schreck erstarren. „Die Thjodhild ist an dem Punkt ihrer Flugbahn angelangt, an dem wir mit unserem Triebwerk den Abbremsvorgang einleiten müssten. Leif hatte wie geplant alle entsprechenden Vorbereitungen getroffen. Dabei ist es beim Start des Fusionstriebwerks zu einer Explosion gekommen, die den Reaktor und einen großen Teil unserer Stützmasse zerstört hat. Eine Reparatur ist unmöglich.“
Diesmal gab es keine Lautäußerungen oder Gefühlsausbrüche. Schweigen herrschte in der Runde. Misha sah den Crewmitgliedern an, wie sie zuerst die Bedeutung der mitgeteilten Informationen bewerteten. Dann starrten sie ihn mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an.
Lu Wu, die Antriebsingenieurin, fasste sich als Erste. „Das ist nicht möglich, Misha. Ein Fusionsreaktor kann beim Start nicht explodieren. Er geht einfach aus, wenn er nicht zünden kann.“
„Und doch ist es geschehen. Ich habe in den letzten zwei Tagen alle Daten des Zündvorganges wieder und wieder überprüft. Bis auf anfängliche Zündschwierigkeiten durch eine zu geringe Temperatur gab es keine auffälligen Werte. Er ist einfach explodiert.“
Lu sprang auf. „Da muss etwas nicht stimmen, wir haben unsere Reaktoren vorher tausendmal gezündet. Wenn die Temperatur nicht hoch genug ist, startet er schlichtweg nicht. Hast du überprüft …“
Misha unterbrach sie laut: „Natürlich, ich habe es mehrmals überprüft. Selbstverständlich wirst du die gesamten Daten noch einmal analysieren. Aber was auch immer dabei herauskommt, er ist und bleibt zerstört.“ Er sah zur Seite. „Leif, bitte zeig uns die Bilder des havarierten Reaktors.“
Hinter dem Kommandanten wechselte die Farbe der Wand und ließ großflächig die Videoaufnahmen des Reaktors erscheinen. Die Augen der Crew waren gespannt auf die Wand gerichtet. Lu gab Leif Anweisungen, die Videodrohne hier und dort hinzuführen, um bestimmte Einzelheiten zu untersuchen. Schließlich ließ sie sich auf ihren Stuhl zurück fallen und starrte mit verbittertem Gesicht in die Ferne.
Schockiert fragte sie: „Was ist mit den anderen Systemen? Was ist außerdem in Mitleidenschaft gezogen worden?“
Leif gab einen Systemstatus durch, wobei er darlegte, dass nur der Reaktor beschädigt war, während alle anderen Systeme und Raumschiffseinrichtungen voll funktionsfähig geblieben waren.
In das allgemeine Schweigen hinein fragte Qaaqqu: „Kann es einen Zusammenhang zwischen uns und den Geschehnissen auf der Erde geben?“
Misha atmete schwer aus. „Es ist äußerst unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Lu wird sicherlich alle beteiligten Systeme bis ins letzte Detail analysieren. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Aber warum sollte es da einen Zusammenhang geben, außer dass beides in etwa zeitgleich eintrat? Die Thjodhild und ihre Mission sind angesichts der Ereignisse auf der Erde völlig unbedeutend. Ein Zusammenhang ergibt keinen Sinn.“
„Vielleicht ein absichtlicher Anschlag auf uns?“, mutmaßte Moss.
Misha erwiderte: „Warum dann nur das Triebwerk zerstören und nicht gleich das ganze Schiff?“
„Wenn wir nicht genügend Ressourcen für eine Reparatur haben, könnten wir dann nicht Teile der Thjodhild auseinandernehmen? Und was ist mit den Kernreaktoren? Wir haben doch sogar einen Reservekernreaktor für den Aufbau der Planetenstation …“, überlegte Kiyoe laut.
„Selbst wenn wir ihn reparieren könnten, was mit den Kernreaktoren an Bord nicht möglich wäre, haben wir kaum noch Stützmasse oder Tritium, um abzubremsen. Auch mit den Steuerdüsen oder den Fähren können wir nicht genug Schub erzeugen. Unser Schiff ist viel zu schwer dafür,“ erklärte Lu.
Moss überlegte: „Könnten wir vielleicht beim Vorbeiflug an Pluto oder anderen Himmelskörpern mit unseren Fähren Stützmasse abbauen?“
Lu erwiderte: „Dafür sind wir viel zu schnell. Die Fähren würden nicht rechtzeitig hin- und zurückkommen. Sie sind nicht für diese Geschwindigkeiten gebaut.“
Qaaqqu sprach in den Raum hinein: „Leif, hast du berechnet, wie lange unsere Lebenserhaltungssysteme durchhalten würden? Wie lange können wir überleben?“
„Genau kann ich das nicht sagen, aber sehr lange. Wir haben durch die Kernreaktoren viele Jahre oder sogar Jahrhunderte Energie. Die Thjodhild ist dafür ausgelegt, selbst ausreichend Nahrungsmittel für uns zu produzieren. Sauerstoff erzeugen unsere Gewächshäuser mehr als genug. Das Überleben der Mannschaft ist nur durch deren natürliche Lebensspanne begrenzt. Diese könnte durch Torpor sogar noch verlängert werden. Wir sind jedoch viel zu langsam, um in dieser Zeit einen anderen Stern zu erreichen.“
Misha sah in die betretenen Gesichter seiner Crew. „Ich fürchte, es ist Zeit, uns den Tatsachen zu stellen und gemeinsam über unsere Zukunft nachzudenken.“
In bitterem Ton rief Angelique: „Welche Zukunft? Es gibt keine Zukunft für uns! Wir werden auf ewig durch den Weltraum rasen, bis wir verrotten. Selbst wenn wir Nachwuchs hätten, wäre dieser dazu verdammt, für immer ohne Ziel dahinzutreiben, bis die Energie in ein paar Generationen verbraucht ist.“
Misha wusste, dass es Angeliques Herzenswunsch war, einmal Kinder zu haben. Doch unter diesen Bedingungen? „Angelique, mir ist bewusst, wie aussichtslos sich das alles für dich anfühlen muss, aber wir haben immer noch uns.“ Dabei versuchte er, sie mit einem warmen Blick zu beruhigen.
Traurig sagte Kiyoe mehr zu sich selbst: „Wie lange halten wir einander unter diesen Bedingungen aus? Werden wir uns nicht irgendwann gegenseitig vor Gram und Frust zerfleischen?“
Auch Moss fragte: „Kann man ohne Sinn und Ziel leben oder werden wir vorher wahnsinnig? Wir haben uns doch alle der Wissenschaft verschrieben. Was sollen wir denn nun im Nichts erforschen und wem können wir es zurückmelden? Die Menschheit geht unter oder wird auf ein Steinzeitniveau zurückfallen. Wozu das alles?“
Lu erwiderte: „Ich glaube, die Siedlungen auf dem Mars könnten auf Dauer überleben, falls sie sich untereinander vertragen. Doch davon hätten wir nichts.“
„Wenn wir noch einmal in die Torpor-Kapseln steigen, könnten wir sehen, wohin es uns treibt und gelegentlich aufwachen“, sinnierte Qaaqqu. „Vielleicht ergibt sich etwas in der Zwischenzeit. Zumindest könnten wir beobachten, wie es im Sonnensystem weitergeht.“
„Na klar, Qaaqqu“, witzelte Moss. „Im Universum ist auch irre viel los. Da ergibt sich bestimmt irgendetwas. Ich kann dir auch sagen, was: Wir werden das absolute Nichts kennenlernen, und zwar bis in die letzte Faser. Jeden spannenden Tag aufs Neue, bis in alle Ewigkeit.“
„Aber in den Torpor-Kapseln werden wir wenigstens nicht verrückt“, antwortete Qaaqqu und zog die Schultern leicht hoch, als wollte er sich gegen die absurde Realität schützen.
„Toll“, entgegnete Moss, mit einem bitteren Lächeln, während er die Hände auf die Oberschenkel klatschte. „Dafür verwandeln wir uns langsam in lebenden Kompost.“ Die Worte hingen in der Luft, wie eine dunkle unheilvolle Wolke aus Düsternis.
Leise begann Angelique zu weinen. Misha beugte sich über den Tisch und nahm ihre Hand in die seine. Kiyoe hatte ihre Hände vors Gesicht gehoben und stützte sich schwer auf ihre Ellenbogen. Mit finsterer Mine knabberte Moss an seinen Fingernägeln. Lu atmete aufgeregt, während sie mit großer Konzentration vor sich hin zu grübeln schien. Versunken starrte Qaaqqu in die Ferne, als gäbe es dort etwas Wichtiges zu sehen.
Langsam streichelte Misha Angeliques Hand und verlor sich dann in seinen eigenen Gedanken. Etwas, das Kiyoe gesagt hatte, erschreckte ihn. Konnten sie wirklich in Zukunft so weiterleben? Die Erfahrungen der Vergangenheit im All hatten gezeigt, dass Menschen in abgeschotteten kleinen Gruppen auf Dauer dazu neigten, sich in Streitereien und Frust aufzureiben. Zwar war die Thjodhild in Bezug auf Platz und Ambiente großzügig ausgestattet, sodass die Crew sich aus dem Weg gehen konnte, doch auch dafür war die menschliche Psyche nicht gemacht. Sie benötigten Gesellschaft und Gemeinschaft. Sie brauchten jedoch ein gemeinsames Ziel, eine Aufgabe. Aber im Augenblick schienen sie davon weiter entfernt als je zuvor.
Und Elsbeth? Elsbeth betrachtete alle nacheinander vorsichtig, räusperte sich und fragte mit einer leisen Stimme in die angespannte Stille hinein: „Darf ich etwas sagen?“
In ihren eigenen Gedanken versunken, antwortete ihr niemand. Daher fragte Elsbeth jetzt noch einmal lauter und herausfordernder: „Darf ich etwas sagen?“
Misha sah auf und sagte beiläufig: „Natürlich, du wirst in diesem Schiff genauso dem Tod entgegensehen wie wir alle.“
Selbstbewusst erwiderte sie: „Nein, werde ich nicht!“
Misha blickte verwundert auf, und Elsbeth redete weiter:
„Ich weiß, ich bin hier nur ein ungewollte Last. Ihr wollt mich nicht haben. Nur meine eigene Dummheit hat mich hierher gebracht. Dafür habe ich mich schon entschuldigt, aber das macht es nicht besser. Ich kann es nicht mehr ändern. Jetzt ist es so.“
Sie hatte es noch nicht geschafft, alle aus ihren Gedanken zu reißen, also sprach sie weiter: „Ich habe lange darüber nachgedacht, wieso mich das Schicksal in diese Situation gebracht hat. Vielleicht habe ich jetzt eine Antwort darauf gefunden.“
Sie beugte sich vor und wurde eindringlicher: „Einigen habe ich schon von mir erzählt. Das hat euch bestimmt nicht gefallen, so eine einfache Frau wie mich mitzuschleppen. Die ganze Wahrheit wird euch noch weniger gefallen.“
Misha bemerkte, wie Elsbeth versuchte, Blickkontakt zu den niedergeschlagenen Menschen am Tisch aufzunehmen.
„Ihr alle gehört zu den Erfolgreichsten in der Gesellschaft. Hochgebildet, daran gewohnt, immer Ziel und Sinn in eurem Leben zu haben. Immer höher, immer weiter, von Erfolg zu Erfolg.“
Allmählich hörten sie ihr zu. „Ich nicht. Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Aus der untersten Schicht. In meinem Leben musste ich schon viele Schicksalsschläge hinnehmen, und oft war ich mir nicht sicher, ob ich den nächsten Tag noch erleben würde. Ich musste in Ecken der Gesellschaft leben, vor denen ihr euch ekeln würdet. Lange Zeit war mein größtes Glück, einen neuen Tag erleben zu dürfen. Genug Luft zum Atmen zu haben, um ein bisschen Essen kämpfen zu dürfen, einen heilen Körper zu haben und der Lust anderer, um den Preis meines Lebens dienen zu können. Ich wurde verkauft, eingepfercht, gefesselt, geschlagen, gefoltert, jahrelang vergewaltigt und einiger meiner Organe beraubt. Wie ein Stück Vieh. Aber ich habe überlebt.“
Jetzt sahen alle Elsbeth an. Zwar waren ihre Gedanken durch die schlimmen Nachrichten der letzten Minuten niedergedrückt, aber die Schilderungen der reifen Frau ließen sie alle nicht kalt. Misha dachte: ‚Was kommt jetzt noch?‘
„Erst auf dem Mars und später auf Jupiter-Stationen hatte ich wieder so etwas wie ein einfaches Leben. In euren Augen mag das sicher unbedeutend erscheinen. Leute wie ihr waren für mich unerreichbar, am anderen Ende der Gesellschaft, Vorbilder, zu denen wir aufblickten; aber die niemals erreichbar waren. Ich habe einen geliebten Mann und meinen besten Freund an die Leere des Weltraums verloren. Ich habe fünf Kinder in das Dunkel der Welt gebracht. Eins kam elendig bei der Erfüllung seiner Pflicht während einer Reparatur im All ums Leben. Meinen Jüngsten habe ich nun als unfähiges Mitglied der Gesellschaft auf einer Jupiter-Station zurückgelassen.“
Sie wurde langsam lauter und sicherer. „Ich war schon in viel schlimmeren Situationen gefangen. Dagegen lebe ich hier geradezu im Paradies. Ich persönlich würde gerne im Torpor überdauern und vielleicht meinen Kindern ab und zu per Funk beistehen, solange es noch eine Funkverbindung gibt. Auch würde ich gerne miterleben, wie es der Menschheit in Zukunft ergeht und ob meine Kinder überhaupt eine Zukunft haben.“
Elsbeth stand auf und richtete ihr Wort nun im Stehen an die Wissenschaftler und Ingenieure. „Ich stand schon oft im Leben vor dem sicheren Tod. Ich kann selbst nicht verstehen, warum ich immer wieder überlebt habe. Aber ich habe weitergemacht, denn es ist mein Schicksal, weiterzumachen.“
Die letzten Worte rief sie beinahe, ihre Stimme zitterte vor Intensität: „Reißt euch zusammen und nehmt euer Schicksal an! Nur weil der bisherige Sinn verloren gegangen ist, heißt das nicht, dass es keinen mehr gibt! Jetzt gilt es, einen neuen zu finden – einen größeren, der uns allen einen Grund gibt weiterzumachen.“
Dabei ballte sie die Fäuste, und ihre Stimme überschlug sich fast. Elsbeth war nicht mehr die unscheinbare Frau, die Putze, aus der unteren Schicht. In diesem Moment war sie etwas anderes – etwas Größeres, doch noch nicht ganz. Sie stand da, zitternd vor Entschlossenheit, als ob sie selbst von ihrer Kraft überrascht wäre.
„Trotzdem müssen sich jetzt alle dem wahren Grund des Lebens stellen: dem Tod. Aber nicht ohne vorher ihre Pflicht zu erfüllen, alles zu geben, um noch einen Sinn zu finden. Und wenn das bedeutet, dass wir als erste Menschen so weit ins All fliegen, wie niemand zuvor, dann soll es so sein.“
Sie machte eine kurze Pause, sah jedem in die Augen, und dann kam der Satz, der in allen nachhallen würde:
„Es ist nicht das Ende. Noch lange nicht. Es ist erst zu Ende, wenn es zu Ende ist! Es ist ein neuer Anfang!“
Die Worte schwebten schwer im Raum, und die Energie, die sie ausgestrahlt hatte, zerfiel nur langsam. Elsbeth setzte sich zurück auf ihren Platz. Ihre Schultern sackten ein wenig ein, und ihre Stimme war jetzt wieder leise und fast entschuldigend: „Tschuldigung, wenn ich als einfache Putze zu weit gegangen bin …“
Die Wirkung war dennoch ungebrochen. Niemand sagte ein Wort. Misha, der Elsbeth mit einem Ausdruck zwischen Überraschung und leiser Bewunderung betrachtete, dachte: ‚Verdammt, was war das? Diese Frau … Sie bringt mich immer wieder aus dem Gleichgewicht. So eine Rede hätte ich halten müssen. Es war meine Aufgabe. Aber ich konnte es nicht.‘
Schließlich brach er das Schweigen. Seine Stimme klang rauer, als er es wollte: „Besser einmal zu weit gehen als nie weit genug.“
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Kap.1.4 Nachwehen Lu