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Kapitel

Kap.1.4 Nachwehen Lu#

04.04.2138
Sie verharrten still im Besprechungsraum. Jeder in seinen eigenen Gedanken gefangen. Nur Angeliques leises Schluchzen durchbrach die Ruhe. Misha hatte sich zu ihr gesetzt und hielt seine Freundin im Arm. Schwere Niedergeschlagenheit erfüllte den Raum. Die Gesichter zeigten Erschöpfung, nicht nur wegen der Nachwirkungen des Torpors. Es war, als hätte ein Sturm der Gefühle das Gehirn mit Hormonen und Emotionen überflutet und die Gedanken schließlich in Wellen tiefer Trauer verlangsamt – bis die Schwere des Lebens den Geist völlig einnahm.

Einzig Lu Wu verhielt sich anders. Die Niedergeschlagenheit ihrer Leidensgefährten blieb ihr nicht verborgen, doch sie verweigerte sich diesem Gefühl mit aller Kraft. Lu musste etwas tun, um sich abzulenken und nicht selbst in Trauer und Gram zu versinken. Andererseits konnte sie nicht so einfach aufspringen und damit das Gefühl der Verbundenheit mit den anderen auflösen.

Sie wartete einen Moment, bis sie es nicht mehr aushielt und richtete sich an Misha: „Es ist eine traurige Situation, aber mich drängt es, die Daten einzusehen und die Explosion zu analysieren. Ich brauche etwas zu tun.“ Dabei sah sie ihren Kommandanten fragend an.

Dieser blickte auf und sagte eher beiläufig: „Ja, ja, sicher. Es ist gut, wenn wir alle unseren eigenen Gedanken nachhängen und uns erholen. Lasst uns die Besprechung gleich regulär beenden. Eine Sache aber noch.“

Misha richtete sich auf. „Ich werde eine offizielle Nachricht an die Missionsleitung senden. Bis eine Antwort kommt, muss ich die Funksperre aufrechterhalten. Da wir aufgrund der Funklaufzeiten frühestens in zwölf Stunden Antwort bekommen, müsst ihr euch noch etwas gedulden, bis ihr eure Freunde und Angehörigen kontaktieren könnt. Die Besprechung ist damit beendet.“

Lu eilte aus dem Besprechungszimmer. In jedem Torus gab es einen kleinen Kommandoraum, ergänzend zu dem großen Raum in der Landefähre an der Spitze der Thjodhild. Der Nächste war zwar nur wenige Gondeln entfernt, aber Lu eilte direkt zum Hauptkontrollraum. Wie Misha drei Tage zuvor nahm sie in ihrem Kommandosessel Platz und verband ihr Neuralinterface mit der Steuerzentrale des Raumschiffs. Als Pilotin, Ingenieurin und stellvertretende Kommandantin – von der Crew meist einfach „XO“ genannt – war sie neben Misha am besten mit den technischen Einrichtungen des Schiffs vertraut.

„Leif, gib mir einen Überblick über alle Daten zum Reaktorunfall. Habt ihr schon eine Simulation der Geschehnisse erstellt?“, fragte sie in scharfem Befehlston.

„Nein, XO. Dafür war noch keine Zeit, und Kommandant Misha war nach seiner Noterweckung noch nicht wieder voll einsatzfähig.“

„Das bin ich auch nicht, aber das spielt jetzt keine Rolle!“ Lu konnte die Ungewissheit nicht ertragen. Der Gedanke, dass das Triebwerk ohne Vorwarnung explodiert war, ließ ihr keine Ruhe. Ihre Ausbildung zur Pilotin hatte sie gelehrt, Emotionen beiseitezuschieben und sich auf die Fakten zu konzentrieren. Sie musste die Daten untersuchen, nicht aus Pflicht, sondern weil der Zweifel sie zermürben würde.

Nach einiger Zeit kam Misha in den Kommandoraum und nahm in seinem Sessel Platz. Lu war tief in die Daten vertieft, bemerkte ihn aber und wandte sich ihm zu.

„Was machen die anderen?“, fragte sie.

„Alle haben sich zurückgezogen. Ich habe angeordnet, dass es in vier Stunden ein gemeinsames Essen in der Messe gibt. Sie sollen nicht zu lange vor sich hin grübeln. Wir müssen jetzt in unserer Einheit als Team Stärke finden. Wie geht es dir?“

„Weiß nicht. Ich kann mich jetzt nicht um mich kümmern. Später ist dafür noch Zeit“, antwortete Lu knapp.

„Ich schätze deinen Einsatz, aber die Daten sind jetzt nicht so wichtig. Wir werden noch viel Zeit haben. Wie es dir geht, ist wichtiger.“ Sein Ton war besorgt.

„Mm, ja, sicher, aber ich muss jetzt einfach etwas anderes tun.“

Lu wusste, dass Misha es nur gut meinte. Sie kannten einander schon lange. Früher hatten sie beide Frachtflüge im Asteroidengürtel durchgeführt. Lu für die chinesische und Misha für die russische Kolonie auf dem Mars. Irgendwann hatten die Raummächte beschlossen, dass es ein Schritt nach vorne wäre, wenn alle großen Mächte, inklusive der amerikanischen und europäischen, mehr zusammenarbeiten würden. So hatten die beiden die Aufgabe erhalten, gemeinsam mit einem Schiff Fracht und Passagiere zu befördern – nicht immer glamourös, aber stets notwendig. Später auch Wissenschaftler, die im Asteroidengürtel Forschungsmissionen durchführten. Immer mit Misha als Kommandanten und Lu als XO.

Offenbar hatten sie das nicht schlecht gemacht. Jedenfalls hatte man sie ausgewählt, die funkelnagelneue Thjodhild von ihrer Werft im Asteroidengürtel zur Jupiter-Station zu bringen, mit der Aussicht, diese dann auf die Forschungsmission zum Pluto zu führen.

Doch dort angekommen, war erst einmal nichts geschehen. Es gab ein langes Hin und Her zwischen den Raummächten um die Auswahl der Besatzung. Eine Zeit lang hatte die chinesische Seite die Oberhand, und es sollte ein rein chinesisches Kommando geben, mit einem chinesischen Kommandanten und Lu als XO. Doch es gab wohl viele politische Spielchen, und alles änderte sich wieder.

Irgendjemand hatte schließlich durchgesetzt, dass Erfahrung und Teamarbeit Vorrang haben sollten. Misha und Lu hatten sich bewährt – als eingespieltes Team, das sich blind aufeinander verlassen konnte. Es war offensichtlich, dass eine Trennung der beiden nicht sinnvoll wäre. Und so waren sie wieder als Einheit ins Spiel gekommen.

Lu sah Mishas besorgtes Gesicht, erkannte aber, dass er nicht weiter auf sie einreden würde. Sie war eine Frau, die sich am besten durch Aktivität ablenken und in der Beschäftigung Heilung finden konnte. Hoffentlich würde das auch in dieser Situation gelingen.

„Na gut“, antwortete Misha. „Aber bevor du dich in den Daten des Reaktors vergräbst, lass uns einige wichtige Dinge erledigen. Wir müssen den Status der Thjodhild überprüfen und einen Bericht an die Mission Control verfassen.“

Er trat selbst in sein Neuralinterface ein, um darüber mit Lu und Leif zu sprechen. Es gab zwei Möglichkeiten, sich auszutauschen: die altbewährte, natürliche Methode, bei der Informationen durch Sprache, Gestik und Mimik weitergegeben wurden, oder die moderne Verbindung zwischen Geist und digitaler Welt. Vor rund hundert Jahren hatte man entdeckt, wie der menschliche Verstand direkt mit der binären Datenwelt verknüpft werden konnte – durch den Nachbau künstlicher Neuronen und deren gezielte Integration in die Signalwege des Gehirns.

Misha formte daher im Sprachzentrum seines Gehirns Wörter und Sätze, doch statt sie mit Stimmbändern und Mund zu artikulieren, übermittelte er diese Informationen geräuschlos an sein Interface.

Lu hatte sich schon mit der Datensphäre verbunden und war mit Leif im virtuellen Kommandoraum der Thjodhild. Nun bemerkte sie Mishas Präsenz, als er sich mithilfe seines Neuralinterface dazugesellte.

Der virtuelle Kommandoraum erinnerte nur vage an eine reale Umgebung. Solche digitalen Räume variierten je nach Zweck und Aufgabe. Einige waren wie physische Räume gestaltet, vor allem für Nutzer mit wenig Erfahrung, damit diese das gewohnte Körpergefühl der Kontrolle ins virtuelle Erleben übertragen konnten. In diesen Simulationen gab es digitale Möbel, und die Anwesenden wurden durch menschenähnliche Avatare repräsentiert.

Für Lu und Misha war das anders. Sie waren seit Jahren daran gewöhnt, die Kontrolle der Thjodhild über ihr Neuralinterface zu übernehmen. Ihr virtueller Kommandoraum war daher abstrakter und nicht körperlich orientiert. Auch die Teilnehmer erschienen nicht als Abbilder menschlicher Körper und Gesichter. Stattdessen repräsentierten abstrakte, durchscheinende geometrische Objekte die Anwesenden, wobei verschiedene Zustände durch Farbcodierungen sichtbar gemacht wurden.

Misha erschien als ein facettenreiches Gebilde, das an einen Fußball erinnerte, aber nur aus ebenen Flächen bestand – ein Ikosaederstumpf, dessen geometrische Form durch zahlreiche kleinere Anhängsel ergänzt wurde. Lu hingegen war ein elegantes Ikosaeder mit zwanzig ebenen Flächen, das ebenfalls von zusätzlichen Elementen umgeben war. In dieser virtuellen Welt wurden höhere Ränge oft durch komplexere Formen repräsentiert: Leif zum Beispiel wurde durch einen Torus dargestellt, dessen geschwungene Linien sich sanft wölbten.

Ein entscheidender Unterschied zu herkömmlichen virtuellen Umgebungen war, dass die gesamte Thjodhild als ein einziger, zusammenhängender virtueller Körper abgebildet wurde. Die Teilnehmer konnten sich direkt mit den einzelnen Anlagen verbinden, als wären diese Erweiterungen ihres eigenen Körpers.

Ohne eine hörbare Stimme wandte sich Misha an Leif: „Hat die Thjodhild ihre volle Bewohnbarkeit erreicht?“

„Ja, zu einhundert Prozent. Alle Gondeln sind für künstliche Schwerkraft ausgerichtet. Die Lebenserhaltungssysteme laufen nominal. Ich habe dafür gesorgt, dass frische Lebensmittel aus den Gewächshäusern bereitstehen. Die Temperaturen sind überall auf menschliche Bedürfnisse angepasst, selbst in der Zentralachse und in der Landungsfähre. Nur in der unteren Achse bei den Lagercontainern herrschen noch Reisetemperaturen. Bis auf den Fusionsreaktor laufen alle Systeme nominal.“

Lu war so auf den Schaden am Reaktor fixiert gewesen, dass sie Naheliegendes zurückgestellt hatte, nun fragte sie Leif: „Gibt es schon Antwort auf unsere Funkanrufe oder andere Nachrichten?“

„Nein, leider nicht. Sonst hätte ich mich bereits gemeldet. Nur die üblichen Nachrichten aus dem Interlink. Die allgemeine Nachrichtenlage ist nach wie vor etwas verworren. Unverschlüsselte Informationen werden immer seltener gesendet. Stattdessen habe ich einen Anstieg hoch verschlüsselter Signale festgestellt. Es scheint, als ob sich die verschiedenen Machtblöcke zunehmend voneinander abgrenzen.“

„Ich möchte mir selbst einen Überblick verschaffen. Stell mir bitte die wichtigsten Nachrichten zusammen und übertrage sie mir.“

„Gerne. Sollen wir nicht selbst einen Statusbericht senden?“

Misha antwortete an Lus Stelle: „Ja, sicher, aber lass Lu erst einmal einen Überblick gewinnen. Behalte das regelmäßige Heartbeat-Signal bei.“

Bisher wusste die Mission Control nur wenig über die Vorfälle auf der Thjodhild. Ohne spezifische Anweisung hatte Leif keine detaillierten Daten gesendet. Das tägliche Heartbeat-Signal hatte bisher lediglich mitgeteilt, dass es einen Triebwerksausfall gegeben hatte und die Mannschaft aus dem Torpor erweckt worden war. Die Mission Control hatte den Eingang des Heartbeat-Signals bestätigt, jedoch nur automatisch und ohne menschliches Eingreifen.

Lu überflog die allgemeinen Nachrichten aus dem Interlink. Die wesentlichen Ereignisse kannte sie bereits aus der Besprechung. Es gab jedoch eine spezielle - etwas ältere - Nachricht von ihrem chinesischen Vorgesetzten, die ausschließlich an sie gerichtet und verschlüsselt war. Lu öffnete die Botschaft.

Die Nachricht war kurz und für Außenstehende wenig aussagekräftig. Nach der üblichen Lobpreisung der Führung und der Betonung, wie effektiv die Partei alle Krisen bewältigen würde, sowie der Zusicherung, dass ihr Heimatland sehr stolz auf sie sei, folgte eine weitere Floskel, die für Uneingeweihte bedeutungslos erschien: Sie, Lu Wu, sollte ihre Pflicht gegenüber ihrem Land erfüllen und stets die Anordnungen befolgen, die ihr aufgetragen wurden. Ihr Verbindungsoffizier erwähnte dabei nicht explizit Kommandant Misha Ivanir, sondern sprach nur allgemein von übergeordneten Stellen – jedoch mit einer Nuance, die nur Muttersprachlern ins Auge fiel. Damit waren nicht Ivanirs Befehle gemeint, sondern die ihrer chinesischen Auftraggeber.

Lu verstand die Botschaft sehr genau. Sie hatte exakte Instruktionen für bestimmte Situationen an Bord der Thjodhild und für den Umgang mit ihrem Kommandanten erhalten. Kurz dachte sie über den Inhalt dieser Direktiven nach, entschied aber, dass jetzt nicht der richtige Moment war, um darüber zu reflektieren.

Sie wandte sich wieder Misha zu, suchte ihn in der virtuellen Thjodhild und fand ihn bei der detaillierten Überprüfung des Zustands verschiedener Schiffseinrichtungen.

„Kommandant Misha, ich bin mit meinem Nachrichtenüberblick fertig.“

„Noch irgendwas herausgefunden?“

„Nein, nichts Besonderes. Ich habe eine allgemeine Botschaft von meinem Verbindungsoffizier erhalten. Er wünscht uns Erfolg und Glück bei der Behebung unserer Probleme. Natürlich können sie die genaue Lage noch nicht kennen, aber die Botschaft wirkt, als ob sie davon ausgehen, dass alles unter Kontrolle ist. Wir sollten jetzt einen genaueren Statusbericht verfassen.“

Misha überließ Leif die Überwachungsaufgaben und formulierte mit Lu einen Statusbericht an die Mission Control auf der Jupiter-Station. Sie verfassten den Bericht zwar wahrheitsgemäß und umfassend, aber dennoch knapp. Darin äußerten sie die Einschätzung, dass die Mission nach aktuellem Kenntnisstand als gescheitert betrachtet werden müsse und die Besatzung noch keinen vernünftigen Plan gefunden habe, um mit der Situation umzugehen.

Danach verabschiedete sich Misha von Lu. „Ich werde mal nach den anderen sehen. Vergiss nicht unser gemeinsames Essen.“ Lu übermittelte nur das virtuelle Äquivalent eines Nickens.

Endlich war Lu allein. Trotzdem konnte sie sich nicht sofort ihrer Untersuchung des Reaktors widmen. Die Befehle ihrer Vorgesetzten gingen ihr durch den Kopf. Sie war immer eine treue Gefolgsfrau der Partei und ihres Landes gewesen – andernfalls wäre sie nicht hier gewesen. Man hatte sie gründlich auf ihre Mission vorbereitet, verschiedene Szenarien analysiert und Verhaltensweisen abgestimmt – nicht nur zum Wohle der Thjodhild und ihrer Mannschaft, sondern auch im Interesse der Machterweiterung des chinesischen Volkes. Doch eine Situation wie diese hatte niemand vorhergesehen. Wie auch? Es war doch das Ende der Mission, oder nicht? Diese Gedanken verwirrten Lu und ließen sie unaufgeräumt zurück. Das war nicht hilfreich. Sie musste erst weitere Informationen sammeln. Sie hatte das Gefühl, dass die Havarie des Reaktors ein Geheimnis barg, und das galt es jetzt, zu ergründen.

„Leif, ich möchte eine detaillierte Simulation des Reaktorstarts entwickeln. Such das Programm zur Ablaufsimulation der Reaktorzündung und lade es mit den vorhandenen Daten. Wir werden jede Einzelheit des Vorgangs in Zeitlupe untersuchen.“ ​ ​


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Kap.1.5 Nachwehen Angelique