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Kap.1.5 Nachwehen Angelique#
Angelique lag auf ihrem Bett und starrte gedankenverloren zur Decke. Im gesamten Schiff konnten die meisten Decken und Wände als riesige Visoren verwendet werden, selten jedoch, um numerische Daten abzubilden. Für derartige Informationen waren die in allen Gehirnen der Mannschaft integrierten Neuralinterfaces weitaus besser geeignet. Die Visoren dienten stattdessen meist als Ersatz für Fenster oder zur Darstellung atmosphärischer Bilder. Angelique hatte ihre Decke in einen riesigen Visor mit Blick auf das Weltall verwandelt. Es zeigte ein Infrarotbild des Zentrums der Milchstraße. Keine Bewegung war zu erkennen, nicht einmal ein Flackern, wie man es von der Erde durch die Atmosphäre sehen würde. Trotzdem bot diese reale Abbildung einen grandiosen Blick ins All. Angelique liebte diese Aussicht. Die unzähligen Sterne und Sternballungen im Infraroten Licht ihrer Strahlung faszinierten sie immer wieder und unter anderen Umständen hätte sie dieser Anblick beruhigt.
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Doch nun dachte sie betrübt: ‚Das ist also mein Ausblick für die Ewigkeit. Sterne in allen Richtungen. Die Erde nur als winziger Lichtpunkt in der Ferne. Nie wieder eine echte Oberfläche auf einem Planeten oder einem Mond? Nur noch virtuelle Simulationen oder Aufzeichnungen?‘
Sie schloss die Augen. In ihrer Vorstellung lief sie mit ihren ungeborenen Kindern durch die Gänge der Gewächshäuser der Thjodhild, ihre Arme ausgestreckt, während hohe Gräser ihre Handflächen streiften.
‚Das wird niemals wahr? Dass ich wahrscheinlich nicht mehr zur Erde zurückkehre, war mir klar. Aber keine Familie? Ich dumme Kuh hätte schon auf der Jupiter-Station Kinder bekommen sollen. Doch meine Karriere war mir wichtiger. Wie kann ich jetzt noch Leben in diese Welt setzen? Ohne echte Zukunft. Nur der sichere, langsame, einsame Tod am Ende einer ereignislosen Reise …‘
Mehr als fünfzigtausend Menschen hatten inzwischen das All zu ihrem Zuhause gemacht, über zehntausend davon in Kolonien und Außenposten jenseits von Erde und Mond. Die größten Gruppen fanden sich auf dem Mars – in den Einrichtungen der Raummächte und den Siedlungen freier Unternehmen. Der Jupiterorbit war mit Gemeinschaften besiedelt, die Forschung betrieben oder sich als permanente Niederlassungen etablierten, vor allem auf Ganymed. Sogar im Orbit des Saturn entstand eine kleine Station. Im Asteroidengürtel, in Minen und Werften, arbeiteten zahlreiche Menschen, um die Ressourcen für die Eroberung des Sonnensystems zu fördern. Diese Siedlungen waren jedoch noch immer nicht autark. Von der Erde kamen zwar keine Rohstoffe mehr, aber hochtechnologische Güter und seltene Halbstoffe für die Produktion, die im All schwer herzustellen waren, wurden weiterhin importiert.
Die Menschen im All waren längst keine exklusive Gruppe von Astronauten und Forschern mehr. Was einst eine Seltenheit war, war inzwischen Alltag geworden – mit allem, was dazugehörte: Familie, Sterben, Sex, Konflikte, Fortschritt, Alter, Tod und natürlich Kinder.
Angelique dachte an die vielen Kinder und Jugendlichen auf der Jupiter-Station, besonders auf Ganymed. Sie hatte oft darüber nachgedacht, dort eine Familie zu gründen, auch wenn ihr der richtige Partner damals noch gefehlt hatte. Auf Ganymed herrschte eine außergewöhnlich offene Gesellschaft, in der Familienmodelle vielfältig waren und traditionelle Muster wie die klassische Paarbeziehung zwar existierten, aber keineswegs die Norm darstellten. Alleinstehende Frauen wurden aktiv unterstützt, unter anderem durch Zugang zu umfangreichen Samenbanken und sozialer Infrastruktur. Niemand musste sich zwischen Karriere und Familie entscheiden – auf Ganymed war beides möglich.
Auf diesem Mond genossen die Menschen in familiären Fragen mehr Freiheit, was die Kolonie von anderen Siedlungen mit strikteren sozialen und kulturellen Normen unterschied.
Nicht überall im Sonnensystem wurde die Fortpflanzung so frei gehandhabt. Politische und ethische Systeme bestimmten oft den Rahmen. Es gab Siedlungen, in denen die Fortpflanzung nach alten Normen oder strengen Regeln ablief. Doch überall im All wurden Kinder als etwas Besonderes gesehen und stark gefördert. Diese in Weltraumsiedlungen großzuziehen war weitaus anspruchsvoller und teurer als auf der Erde. Das Überleben im All war nur durch fortschrittliche Technik möglich, und die Anforderungen an die Ausbildung waren erheblich höher. Als sogenannte Kosmonatives, also im Kosmos Geborene, spielten Kinder eine zentrale Rolle für das Überleben der Weltraumgesellschaften.
Angelique hatte Ganymed bewusst wegen des offenen Denkens gewählt. Damals hatte sie geglaubt, sie könne dort ihren Kinderwunsch verwirklichen. Doch sie hatte sich geirrt – oder sich etwas vorgemacht. Genauso war es mit ihrem Ex-Mann gewesen. Sie hatte gehofft, die Ehe sei der richtige Ausgangspunkt für eine Familie. Doch er hatte sie verlassen und war zur Erde zurückgekehrt. War er vielleicht vor ihr geflohen? Ihre Arbeit hatte immer zwischen ihnen gestanden. Der Drang, Menschen zu heilen und das Geheimnis der Zellen zu entschlüsseln, war stärker gewesen. Wie konnte aus ein paar organischen Elementen etwas so Komplexes und Schönes entstehen wie das Leben? Dieser Drang war wichtiger geworden als ihre Ehe. Ihr Ex-Mann hatte es nicht ertragen, an zweiter Stelle zu stehen.
Aber Angelique konnte nicht anders. Das lag an ihren Eltern. Beide waren angesehene Ärzte, die zunächst an medizinischen Instituten im Erdorbit und später auf Kranken- und Forschungsstationen außerhalb der Erde gearbeitet hatten. Von Anfang an war die kleine Angelique immer dabei gewesen. Ihre Eltern hatten sie liebevoll großgezogen, doch ihre Aufmerksamkeit musste sie stets mit deren medizinischer Arbeit und Forschung teilen. Ein Geschwisterkind kam ohnehin nie infrage. Um mehr Nähe zu ihren Eltern zu bekommen, wurde sie früh in deren Arbeit eingebunden. Als kleines Mädchen hatte sie Ärztin mit ihren Puppen gespielt. Als Jugendliche hatte sie bei der Pflege von Patienten geholfen und ihre Eltern bei der Forschung beobachtet. Sie hatte nie daran gezweifelt, welchen beruflichen Weg sie einschlagen würde, und ihre Eltern hatten sie mit all ihrem Wissen und Einfluss gefördert.
Als Angelique später die Chance bekam, auf dem Jupiter gefundene Xeno-Lebensformen zu erforschen und die Menschen mit ihrer umfangreichen medizinischen Weltraumerfahrung zu betreuen, trat ihr Kinderwunsch hinter ihrer Faszination für Forschung und Medizin zurück.
Die Forschungsreise zum Pluto krönte ihre bisherige Arbeit. Ein Aspekt dieser Reise fegte alle Gedanken an Fortpflanzung auf Ganymed beiseite: Die Thjodhild war darauf ausgelegt, bei Bedarf in eine permanente Raumstation umgewandelt zu werden – nicht nur für Monate, sondern für Jahre oder sogar für immer. Das bedeutete, dass irgendwann Kinder gezeugt werden sollten. Was konnte für Angelique besser sein? Der Crew als Ärztin dienen, neue Lebensformen erforschen und die ersten Kinder so weit draußen im Sonnensystem gebären. War das nicht die Erfüllung all ihrer Träume?
Doch jetzt spielte ihr das Schicksal übel mit. Beinahe nichts blieb von ihren Träumen mehr übrig. Sie würde nur noch miterleben, wie ihre Crewmitglieder langsam dahinvegetierten, verrückt wurden oder von den kosmischen Strahlen zersetzt wurden. Schließlich würden sie in ihren Torpor-Kapseln zu lebenden Mumien erstarren.
Diese Gedanken ließen sie nicht los. Kindern konnte sie solch eine Zukunft nicht zumuten. Ihre Träume lösten sich auf wie Moleküle im Salzsäure-Regen der Venus und zerfielen zu Kompost in den Torpor-Kapseln.
Es klopfte am Schott und Mishas Stimme drang durch die Sprechanlage: „Angelique, ich bin es. Lässt du mich rein?“
Angelique gab über ihr Neuralinterface die Erlaubnis, und das Schott öffnete sich. Ohne aufzusehen, hielt sie ihren Blick weiterhin auf die Darstellung des galaktischen Zentrums gerichtet. Sie spürte Mishas bekümmerten Ausdruck auf sich und stellte sich vor, was er wahrnahm. Bestimmt entging ihm nicht, wie rotgerändert und vom Weinen geschwollen ihre Augen waren.
Angelique ließ ihre Augen auf dem Abbild der Galaxie ruhen, klopfte aber neben sich auf das breite Bett. Misha legte sich zu ihr und nahm ihre Hand. Auch er richtete seinen Blick zur Decke, wo das Infrarotbild der Sterne alles in ein tiefrotes Licht tauchte.
Angelique kuschelte sich an Misha, der still neben ihr lag. Sein Blick blieb auf das Abbild der Milchstraße an der Decke geheftet, doch sie spürte, dass seine Gedanken weit weg waren. Ihr Blick verweilte auf seinem angespannten Gesicht, und sie fühlte, wie verkrampft seine Muskeln unter ihrer Berührung waren. Die Stille zwischen ihnen lag wie ein schwerer Nebel in der Luft, der alles einhüllte.
„Du bist so still“, sagte sie leise. „Woran denkst du?“
Misha schloss die Augen für einen Moment, bevor er langsam antwortete: „An vieles. Die Nachrichten … die Lage … und an meine Familie.“
Angelique drückte seine Hand, und ihr Herz zog sich bei der Schwere in seiner Stimme zusammen. Obwohl ihre eigenen Gedanken noch von den schlechten Nachrichten überschattet waren, spürte sie, dass Misha jemanden brauchte, der ihm zuhörte. Es war nicht nur ihre Zuneigung zu ihm, die sie bewegte – es war auch die Ärztin in ihr, die in diesem Moment zum Vorschein kam.
„Erzähl mir davon,“ sagte sie sanft. „Wie geht es dir wirklich?“
„Beschissen,“ gestand er nach einer Weile. „Ich bin der Kommandant. Ich sollte ruhig bleiben, allen Hoffnung geben, den Weg weisen. Aber innerlich bin ich … aufgewühlt. Verloren. Und trotzdem darf ich es niemandem zeigen.“
„Das ist okay, Misha. Wir sind alle Menschen. Niemand erwartet, dass du immer stark bist. Nicht nach solchen Nachrichten.“
Er drehte den Kopf zur Seite, sein Blick war von einer Erschöpfung geprägt, die sie tief traf. Der Kloß in ihrem Hals wurde schwerer, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Doch,“ sagte er leise, „genau das erwarten sie. Ich selbst erwarte es. Aber ich …“ Er zögerte, suchte nach Worten. „Ich habe das Gefühl, ich verliere den Halt. Und dann …“ Seine Stimme brach fast, bevor er weitersprach. „… Sind da meine Kinder und Enkel. Sie sind auf der Erde. Ich habe keine Ahnung, was mit ihnen ist. Ob sie … ob sie überhaupt noch leben.“
Angelique strich sanft über seinen Arm, ihre Berührung ein Versuch, Trost zu spenden. „Du hattest in letzter Zeit wenig Kontakt zu ihnen, oder?“
Er nickte langsam, sein Blick noch immer auf die Milchstraße gerichtet. „Zu wenig. Und jetzt bereue ich es. Plötzlich sind sie wieder so präsent in meinen Gedanken, dass es weh tut. Als hätte ich sie schon verloren.“
„Vielleicht gibt es später einen Weg, Kontakt aufzunehmen,“ sagte sie vorsichtig. „Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben.“
Er schüttelte den Kopf, seine Stimme war schwer. „Ich habe eine Nachrichtensperre verhängt. Für alle – auch für mich. Ich kann nicht einfach nachforschen. Ich muss genauso warten wie alle anderen, bis wir eine Antwort von der Mission Control erhalten.“
„Das zeigt, wie sehr du dir deiner Verantwortung bewusst bist,“ sagte sie sanft. „Du stellst die Mission über deine persönlichen Bedürfnisse. Das ist nicht leicht, aber es zeugt von Integrität.“
Er atmete tief durch, sein Brustkorb hob und senkte sich langsam. „Es fühlt sich trotzdem falsch an. Ich hätte mehr Zeit mit ihnen verbringen sollen, solange ich noch konnte. Aber … jetzt ist es zu spät.“
Angelique überlegte einen Moment, dann sprach sie leise: „Vielleicht solltest du mit Kiyoe sprechen. Sie hat auch noch Eltern auf der Erde. Sie weiß, wie es ist, sich solche Sorgen zu machen. Sie könnte dich verstehen.“
Misha nickte langsam, sein Blick blieb auf die Decke gerichtet, wo die Milchstraße in tiefem Rot leuchtete. „Vielleicht hast du recht. Aber zuerst muss ich meine eigenen Gedanken sortieren.“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er einen unsichtbaren Schleier von Sorgen wegwischen.
Dann seufzte er, seine Stimme klang gedämpft. „Wie schafft Elsbeth das nur? Vier Kinder – auch wenn sie auf Ganymed in Sicherheit sind. Trotzdem … sie war es, die diese Ansprache gehalten hat, nicht ich. Sie hat eine Stärke, die ich nicht verstehe. Wie macht sie das?“
Angelique überlegte kurz, bevor sie sprach: „Ich weiß es nicht. Ihre Resilienz ist unglaublich. So etwas habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nie gesehen. Aber ich denke, sie hat Dinge durchgemacht, die wir uns nicht vorstellen können.“
Misha hielt ihren Blick, zögerte einen Moment, bevor er leise sagte: „Das hat sie. Ihre Personalakte ist … sagen wir, sehr ungewöhnlich.“
Angelique runzelte die Stirn, ihre Neugier war geweckt. „Was meinst du damit?“
„Ich darf dir keine Details verraten. Aber Angelique – wenn du mit ihr sprichst, sei vorsichtig. Deine hohen Moralansprüche …“ Er brach ab und suchte nach den richtigen Worten. „Es wäre gut, wenn du sie etwas zurücknimmst. Sei tolerant.“
„Tolerant?“ Angelique blinzelte irritiert, eine leichte Unsicherheit in ihrer Stimme. „Worauf willst du hinaus?“
Misha schüttelte langsam den Kopf. „Das musst du sie selbst fragen. Aber ich glaube, sie trägt mehr mit sich herum, als sie zeigt. Viel mehr, als wir uns vorstellen können.“
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Kap.1.6 Nachwehen Moss