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Kapitel

Kap.1.6 Nachwehen Moss#

04.05.2138
Moss ging schnell, lief aber nicht. Das Laufband unter ihm rollte gleichmäßig dahin, doch seine Beinmuskeln waren noch weit von ihrer alten Form entfernt. Sie schmerzten bei jedem Schritt – wie Muskelkater, nur dass die Beine sich wie Wackelpudding anfühlten. Er ignorierte den Schmerz und versuchte, sein Tempo zu steigern. Doch sein Körper fühlte sich fremd an, falsch.

Die Schmerzen holten Moss in seinen Körper zurück. Sterne glitten vor ihm über die Wände, die Decke, den Boden. Durch eine Gewichtsverlagerung konnte er die Richtung ändern, doch die virtuelle Realität, die eine Reise in Überlichtgeschwindigkeit simulieren sollte, wirkte wie ein langsames Dahingleiten unter den Sonnen. Zu langsam. Er überlegte kurz, seine Schrittlänge auf ein Lichtjahr pro Schritt einzustellen – aber nein, das wäre geschummelt. Er wollte den Moment spüren, wenn er es wieder auf tausend Lichtjahre pro Stunde schaffte. Das würde noch Tage dauern.

Also setzte er tapfer seinen Kurs zwischen den Sternen fort und versuchte, sich auf die Aussicht zu konzentrieren. Doch seine Gedanken wanderten ab. Immer wieder tauchten Bilder von der realen Reise ins Nirgendwo auf. Diese würde so träge ablaufen, dass sich die Sternenkonstellationen nie ändern würden, dafür war ihr Raumschiff viel zu langsam. Alles würde wie eingefroren sein – die Sterne, die Thjodhild, die Ereignisse und die Menschen auf diesem Schiff. Was sollte er tun, wenn nichts mehr im Leben geschah?

‚Verdammt, ich hatte mich so auf diese Reise gefreut‘, dachte er. ‚Als einer der Ersten über den Pluto laufen, herausfinden, was die Oberfläche so dynamisch macht, obwohl sie seit Milliarden von Jahren tiefgefroren ist. Vielleicht sogar neues Leben unter der Kruste Plutos finden. Den Traum kann ich mir jetzt abschminken. Nichts werde ich. Mein Name, Pederson, eingeschrieben als der Erste, der die Geheimnisse von Pluto lüftet? Ha ha, vergiss es, alter Junge.‘

Er atmete schwer, und ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. ‚Stattdessen werde ich zu den Ersten gehören, die das Sonnensystem verlassen. Tja, auch nicht schlecht – könnte man denken. Aber zu welchem Preis? Wofür habe ich mein ganzes Leben lang gelernt? Um hier zu enden? Ersticken an dieser lähmenden Leere, sterben an Langeweile oder als gefrorener Zombie in einer Torpor-Kapsel verrotten?‘

Sein Inneres krampfte sich zusammen. ‚Aber hey, immerhin breche ich den Rekord für den längsten Torpor-Schlaf. Fantastisch. Genau das, wovon ich immer geträumt habe.‘ Er ballte die Fäuste. ‚Ich wünschte, ich könnte das alles einfach vergessen.‘

Moss versuchte, auf angenehmere Gedanken zu kommen. ‚Vielleicht hilft mir Neuseeland‘, dachte er und wählte über sein Neuralinterface einen Parcours aus seiner Heimat. Vom Strand lief er langsam in die Berge hinein. Der Himmel war blau, mit kleinen Wolken, und die Sonne wärmte seinen Rücken. Der Beginn der Strecke zwischen den üppig bewachsenen Bergen war steil – genau, wie er es mochte. Aber heute war es zu steil für seine schlaffen Beine. Er reduzierte die Neigung des Laufbands und passte die Bodenbeschaffenheit an, sodass seine Beine weniger protestierten.

Die virtuelle Landschaft war eine von ihm entwickelte Simulation. Er wusste genau, welche Parameter er verändern musste, damit die Umgebung auf den Visoren seinen Wünschen entsprach. Der Boden war noch zu sandig. Nach ein paar Anpassungen hatte er das Laufband so eingestellt, dass der Boden härter wurde. Außerdem ließ er das Licht wärmer erscheinen und fügte passende Geräusche und Gerüche hinzu. Das weckte heimatliche Gefühle und Erinnerungen.

Es fehlten noch Vogelanimationen. ‚Ohne Vögel ist es einfach nicht dasselbe‘, dachte Moss. Er hatte zwar schon lange geplant, diese in die Simulation einzubauen, aber dafür war bisher keine Zeit gewesen – Animationen waren aufwendig und mussten genau programmiert werden. Vogelklänge hingegen waren schnell eingefügt. Moss rief ein Standardmodul für Hintergrundgeräusche auf und ließ die sanften Rufe von Vögeln und das Flattern von Flügeln erklingen. Es war nicht perfekt, aber es reichte, um die Simulation lebendiger wirken zu lassen.

Dabei erinnerte er sich daran, dass er Leif bald neu würde booten müssen – aber vielleicht sollte er das noch etwas hinauszögern. Leif hätte eigentlich bis Pluto durchhalten sollen, ohne dass ein Neustart nötig gewesen wäre. Doch die jüngsten Ereignisse hatten sicher auch bei der KI ihre Spuren hinterlassen. Schließlich hatte Leif einen Teil seines Körpers verloren. Welche Auswirkungen das wohl auf seine mentale Kapazität hatte? Moss beschloss, sich mit Misha darüber abzusprechen.

Dabei fiel ihm ein, dass diese Aufgabe wohl die spannendste bleiben würde, die er für den Rest seines Lebens noch haben würde. ‚Wenigstens etwas‘, dachte er trocken. Moss mochte die Arbeit an der KI-Software – er hatte schon immer alle Arten von Simulationen geliebt. Die Erschaffung künstlicher Intelligenz faszinierte ihn besonders, doch seine wahre Leidenschaft war die Astrobiologie und die Untersuchung von Extremophilen. Schon als Jugendlicher auf der Erde hatte er die Vulkanschlote und ungewöhnlichen Lebensräume seiner Heimat nach Organismen durchkämmt, die dort existieren konnten, wo andere scheiterten. Zuerst in Neuseeland, später als Student in der Antarktis. Die dortigen Bedingungen ähnelten denen im All. Er untersuchte die einzigartigen Organismen und nahm an mehreren Forschungsreisen teil. Seine Begeisterung für Computer führte dazu, dass er früh Simulationen entwickelte, um die Entstehung von Leben unter extrem kalten Bedingungen zu modellieren. Damit erzielte er schließlich einige bedeutende Erfolge. Über die Erforschung dieser Überlebenskünstler fand er seinen Weg zur Astrobiologie.

Moss‘ Leistungen blieben nicht unbemerkt, und so erhielt er die Chance, zu den Jupiter-Stationen zu reisen und an der Erforschung der Jupitermonde mitzuwirken. Auf Europa, einem der Jupitermonde, hatten Wissenschaftler tatsächlich einfache Lebensformen im Ozean unter dem Eis entdeckt – allerdings noch vor seiner Ankunft. Seine Aufgabe war es, die bisherigen Arbeiten fortzusetzen. Doch Moss wollte mehr. Er war überzeugt, dass das Universum voller Leben war und dass er dies eines Tages beweisen könnte. Ein solcher Beweis hätte die Sicht der Menschheit auf ihren Platz im Universum für immer verändert.

Moss hatte nicht geglaubt, dass er für die Mission zum Pluto ausgewählt werden würde, auch wenn er in der Astrobiologie einen erstklassigen Ruf hatte. Der Einfluss seines Heimatlandes war einfach zu gering. Die Chinesen waren bei den Entdeckungen auf Europa außen vor gewesen und wollten das ausgleichen, indem sie die Pluto-Mission mitfinanzierten. Die mächtige chinesische Delegation bei der Auswahlkonferenz der Thjodhild-Besatzung hatte mehrere ihrer Landsleute vorgesehen – darunter einen Astrobiologen. Moss hatte keine Chance gehabt – so hatte er geglaubt. Eine Konferenz nach der anderen folgte, politische Spielchen wurden gespielt – und verloren. Sogar der Abflugtermin der Thjodhild wurde verschoben.

Doch plötzlich ging alles ganz schnell. Zu seiner großen Überraschung wurde er ausgewählt. Unter vorgehaltener Hand hieß es, es habe einen politischen Deal zwischen China und Neuseeland gegeben. Moss hatte keine Ahnung, was sein kleines Land dem mächtigen China angeboten haben könnte. Erstaunlicherweise wurden auch andere Positionen innerhalb der Crew völlig neu vergeben. Nur Lu, die einzige Chinesin, blieb. Man munkelte, dass eine noch mächtigere Macht als China eingegriffen hätte. Lächerlich. Wer hätte das sein sollen?

Politik hatte Moss nie wirklich interessiert, also hatte er nicht weiter nachgehakt und sich einfach über die größte Chance seines Forscherlebens gefreut. Schon seit Jahrzehnten wusste die Wissenschaft, dass Pluto viel mehr war als nur ein zugefrorener Felsbrocken am Rand des Sonnensystems. Als im Jahr 2015 die erste Raumsonde den Zwergplaneten passierte, war die Forscherwelt von der Dynamik und den ungewöhnlichen Merkmalen seiner Oberfläche überrascht – geradezu schockiert. In den 2090er-Jahren schickte man weitere Robotersonden, die noch beeindruckendere Erkenntnisse lieferten. Schließlich wurde bestätigt, dass sich unter Plutos Eis ein Ozean befindet, der vermutlich durch radioaktive Prozesse im Inneren des Zwergplaneten erwärmt wurde.

Doch Pluto lag so weit entfernt, dass selbst Licht – und damit auch Funksignale – Stunden brauchte, um die Strecke zu überwinden. Ferngesteuerte Sonden waren daher nicht praktikabel, und der Einsatz von KIs scheiterte an einem tief verwurzelten Misstrauen. Niemand wollte einer KI das Steuer überlassen, besonders nicht bei einer Mission dieser Tragweite. So blieb nur eine Option: Menschen mussten die lange und gefährliche Reise zum Rand des Sonnensystems antreten. Moss war einer der wenigen Auserwählten – und er war überglücklich.

Und jetzt? Was blieb jetzt?\ Er hatte keine Ahnung. Nur dies: viel Zeit.\ Und das Nichts hinter dem Pluto.\ Wie öde.

Doch was hatte Elsbeth da gesagt? Es ist nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang. Aber wie er daraus einen neuen Sinn fürs Leben ableiten sollte, war ihm schleierhaft. Ganz plötzlich fiel ihm dabei sein Vater ein. Als er noch jung war, hatte er ihn einmal gefragt, was denn der Sinn des Lebens sei.

Die Antwort kam ohne Zögern: „Ficken!“

Moss’ Eltern waren immer sehr offen und freizügig mit Sexualität umgegangen und hatten ihn auch in diesem Sinne erzogen, doch diese Antwort erstaunte ihn trotzdem.

Nach dem ersten Schockmoment fragte Moss: „Also der Gedankengang gefällt mir zwar, aber den Sinn dahinter verstehe ich nicht.“

„Mein Sohn, du bist jetzt noch sehr jung und voll im Saft. Deswegen rate ich dir, mit möglichst vielen Frauen ins Bett zu gehen. Aber pass auf, dass du nicht gleich Kinder machst. Dann wirst du Erfahrungen mit dem Leben sammeln können. Und das wird dir irgendwann ermöglichen, die Richtige zu finden – nicht nur eine, die gut im Bett ist, sondern eine, die wirklich zu dir passt.“

"Wie merke ich das? Wann passt eine Frau zu mir?"

„Tja, so genau kann ich dir das auch nicht sagen. Du wirst es schon merken, wenn es so weit ist. Bei deiner Mutter und mir war es so: Irgendwann habe ich gemerkt, dass die geistige Vereinigung mit ihr genauso aufregend war wie die körperliche. Sie war erfüllt von mir – und ich von der Erkenntnis, dass ich nie wieder rauswollte.“ Bei letztem Satz lächelte er süffisant.

Moss verzogt das Gesicht: "Äh Papa, so genau wollte ich das gar nicht wissen." Heute musste Moss darüber lächeln. Das war die genau die Art von Witzen, die Moss heute auch gerne machte.

Er sah regelrecht noch, wie sein Vater darüber grinste: "Nein, jetzt in echt, ohne Spaß, das ist wirklich wichtig. Wenn du mit dem gleichen Spirit mit ihr durchs Leben gehen kannst, ist sie die richtige. Dann mach Kinder."

"Und das ist dann Glück?"

"Vielleicht, aber wenn du dann älter wirst und immer noch genauso gerne nachts an ihr gekuschelt liegst wie früher und es sich anfühlt wie ein Körper, dann sicher. Diese tiefe Vertrautheit und Verbundenheit wird dich beseelen. Das wünsche ich dir, mein lieber Sohn."

Die Worte seines Vaters hallten warm in seinen Gedanken nach. Doch wie sollte er das hier auf der Thjodhild noch umsetzen? Gut, das mit dem Kinderkriegen konnte man getrost auslassen – dafür war die Zukunft der Thjodhild beim besten Willen nicht geeignet. Die Hörner hatte er sich zur Genüge abgestoßen. Aber wem sollte er jetzt noch näherkommen? Lu und Kiyoe waren lesbisch, Angelique mit Misha liiert, und Qaaqqu mochte er zwar aufrichtig – aber nicht so. Es blieb da nur noch Elsbeth.

Auch wenn Elsbeth mehr als zwanzig Jahre älter war, gefiel sie ihm. Ihre Ansprache hatte ihn beeindruckt. Er hatte dabei eine Frau gesehen, die viel mehr Tiefe zeigte, als er zuerst vermutet hatte. Außerdem war sie trotz ihres Alters noch ziemlich attraktiv. Sie strahlte eine gewisse Erotik aus, die er noch nicht verstand.

Konnte dies wirklich ein neuer Anfang sein, eher doch nicht, oder? Was blieb ihm anderes übrig?

Moss beschleunigte seine Schritte und die Schmerzen wurden intensiver – genau das, was er brauchte, um nicht an die Zukunft zu denken. Später reduzierte er das Tempo wieder, und prompt kehrten die Gedanken zurück. ‚Also immer schön im Schmerzbereich bleiben‘, dachte er. ‚Damit fege ich alles Dunkle weg …‘ ​


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Kap.1.7 Elsbeth und Misha im Wintergarten