Kap.1.8 Die Ahnen#

04.05.2138
Qaaqqu bereitete sich auf die Sitzung mit seinen Ahnen vor, die er später durchführen wollte. Jedes Crewmitglied der Thjodhild durfte nur eine begrenzte Menge an persönlichen Gegenständen mitnehmen. Seine Wahl fiel auf eine Truhe aus uraltem Holz. Für Außenstehende wirkte sie unscheinbar, fast gewöhnlich, doch für ihn war sie von unschätzbarem Wert – emotional und materiell. Holz war bei den Inuit seit jeher rar und kostbar, da es in den nördlichen Eisregionen kaum vorkam. Dieses Erbstück hatte ihm sein Urgroßvater vermacht, der es wiederum von seinem Großvater erhalten hatte. Die Truhe stammte aus einer Zeit, als die Arktis noch von gewaltigen Eisflächen bedeckt war. Heute blieben vom einstigen Eismeer nur kümmerliche Überreste rund um den Nordpol. Als Kind hatte Qaaqqu noch ein wenig mehr Eis erlebt, doch selbst das war nur ein schwacher Schatten der vergangenen Eislandschaften. Sein Urgroßvater, einst Leiter eines Inuit-Museums und ein Bewahrer der alten Kultur, hatte früh erkannt, dass die Ära der Inuit zu Ende ging.

Qaaqqu nahm einen kleinen Beutel mit einem Amulett aus der Truhe und hielt ihn an seine Stirn. Vor seinem inneren Auge erschien das Gesicht seines Urgroßvaters. Was würde er ihm raten? Welche Weisheit hätte er für ihn? Qaaqqu hatte eine heilige Bestimmung erhalten – einen Auftrag, den ihm sein Urgroßvater und der Ältestenrat anvertraut hatten. Doch angesichts der jüngsten Ereignisse stellte er sich die Frage, ob dieser Auftrag überhaupt noch erfüllbar war. Er erinnerte sich an seinen Schwur vor den Ältesten, sein Leben und Wirken ganz diesem Ziel zu widmen. Dafür hatte der Ältestenrat zusammengelegt und den kleinen Schatz ihres Stammes, über Generationen hinweg gehütet, zu Geld gemacht.

Schon in seiner Kindheit war Qaaqqu für seinen scharfen Verstand und seine Wissbegier bekannt. Doch die anderen Kinder verspotteten ihn oft und nannten ihn Streber. Sein Urgroßvater war es, der ihn stets unterstützte und ihm Rückhalt gab. Später erhielt Qaaqqu das gesammelte Geld, um an den besten Universitäten der USA zu studieren. Doch dort fühlte er sich nie heimisch. Immer wieder musste er sich gegen Vorurteile behaupten: Ein Inuk, ein Sohn des Eises, könne keine bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen erbringen. Es war ein harter Kampf, doch Qaaqqu arbeitete doppelt so viel wie alle anderen und wurde schließlich zu einem führenden Experten in Glaziologie und Planetologie. Nach seinem Studium kehrte er nach Kanada zurück, wo er sich durch seine Erfolge einen Namen machte. Hier fand er auch Förderer, die ihn gerade wegen seiner Herkunft unterstützten.

Noch einmal überprüfte Qaaqqu, ob das Schott zu seiner Kabine fest verschlossen war. Niemand durfte ihn bei diesem archaischen Ritual stören – niemand würde es verstehen. Nur Valima Vanmacta, seine engste Vertraute, die auf der Jupiter-Station zurückgeblieben war, kannte sein Geheimnis.

Über seine Kindheit sprach Qaaqqu selten, über seine Bestimmung noch seltener. Seine indigene Herkunft ließ ihn unter Wissenschaftlern und Raumfahrern oft wie einen Fremdkörper wirken. Nur durch seine außergewöhnlichen Kenntnisse und sein feines Gespür für die verborgenen Ozeane der Eismonde hatte er sich den Respekt seiner Kollegen erarbeitet. Valima verstand diese Isolation. Auch sie war eine Außenseiterin, obwohl ihr Name, Vanmacta, im gesamten Sonnensystem Gewicht hatte. Doch genau das war ihr Fluch: Sie wurde oft nur als Schlüssel zu ihrem einflussreichen Vater wahrgenommen, während ihre eigenen Errungenschaften im Schatten verblassten. Qaaqqu kümmerte sich nicht um den Namen Vanmacta. Für ihn zählte nur die Person dahinter. Er wusste, dass Valima ihn verstand wie niemand sonst, und er vermisste die Nähe, die nur sie ihm geben konnte.

Qaaqqu setzte sich im Schneidersitz vor die Truhe und öffnete sie, als entfaltete er einen heiligen Schatz. Sorgfältig entnahm er die Gegenstände, die für die Zeremonie wichtig waren. Zuerst zündete er eine kleine Tranlampe an, deren flackerndes Licht den Raum in ein sanftes, goldgelbes Leuchten tauchte. Neben die Lampe platzierte er eine Robbenfigur aus Speckstein, glatt und kühl in seiner Hand. Mit ruhigen Bewegungen legte er sich ein Amulett um den Hals und nahm zwei Steine aus seiner Heimat. Bedächtig rieb er sie aneinander, ein rhythmisches Geräusch, das den Raum zu erfüllen schien. Dabei begann er, ein altes Schamanenlied zu singen, das sein Urgroßvater ihm einst beigebracht hatte. Die Melodie, rau und eindringlich, schien den Raum mit den Geistern seiner Vorfahren zu füllen.

Er atmete tief ein, ließ die Luft bis in seinen Bauch strömen und entließ sie langsam und kontrolliert aus Lunge und Mund. Durch diesen meditativen Atem und die hypnotischen Bewegungen der Steine versetzte er sich Stück für Stück in einen tranceähnlichen Zustand.

Nach einer Weile gelang es ihm, seine Gedanken zu beruhigen und seinen Geist zu leeren. Schließlich rief er in Gedanken seinen Urgroßvater und den großen Jäger Qaaqqukannguaq herbei, nach dem er benannt worden war. Die Vorstellung dieser beiden Persönlichkeiten in seinem Geist ließ ihn eine tiefe Verbundenheit spüren. Es war eine Verbindung, die ihn stets stärkte und leitete.

Und doch – es war Nattiq, die kleine Robbe aus Speckstein, die für ihn das Herzstück dieses Rituals darstellte. Dieses jahrhundertealte Artefakt, das seine Vorfahren stets behütet hatten, war mehr als nur ein Symbol. Es war der Vertraute der großen Inuit-Göttin Sednar und sein persönlicher Talisman. Vorsichtig nahm er die Figur in die Hand und ließ einen winzigen Tropfen Tranöl aus einem kleinen Glasflakon darauf fallen. Behutsam rieb er den Tropfen über die Robbe. Immer wenn er vor schwierigen Entscheidungen stand, fragte er dieses heilige Artefakt um Rat.

Qaaqqu erzählte seinen Ahnen und Nattiq von den jüngsten Ereignissen und fragte sie, wie er seinen Auftrag noch erfüllen konnte. Eine Weile saß er reglos, die Verbindung spürend, die weder real noch greifbar war, aber in ihm lebte. Als Wissenschaftler wusste er genau, dass er keinen tatsächlichen Kontakt herstellen konnte. Aber die Geschichten und Ideale seiner Ahnen, die sie ihm hinterlassen hatten, waren Teil seines Wesens. Sie waren gespeicherte Fragmente in seinem Gedächtnis, und durch Rituale wie dieses konnten sie für ihn Gestalt annehmen. Nicht weil er an eine übernatürliche Führung glaubte, sondern weil diese Tradition ihm half, Klarheit in der Unordnung seiner Gedanken zu finden.

Es war noch lange nicht vorbei – tief in seinem Inneren spürte er es jetzt mit derselben Gewissheit, die Elsbeth in ihrer Ansprache vermittelt hatte: „Es ist nicht das Ende. Noch lange nicht. Es ist erst zu Ende, wenn es zu Ende ist! Es ist ein neuer Anfang!“ Diese Worte hallten in ihm nach, doch nun trugen sie ein neues Gewicht, als kämen sie von einer Macht, die er nicht völlig begreifen konnte. Etwas Unvorhersehbares lag vor ihm. Aber würde er in der Lage sein, seinen Schwur zu halten? Er hatte sich verpflichtet, doch die Zweifel wuchsen.

Es klopfte an das Schott seiner Kabine. Über sein Neuralinterface hörte er die vertraute Stimme von Moss.

„Hey, großer Inuit! Ich wollte dich zum Essen abholen. Kommst du mit?“

Qaaqqu wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen. Hektisch legte er die Gegenstände zurück in die Holzkiste und verschloss sie sorgfältig. Moss war ein langjähriger Freund, jemand, den er wirklich schätzte. Doch von seiner Bestimmung und den Ritualen hatte er ihm niemals erzählt – und würde es auch nicht. Moss war ein guter Kerl, aber er hatte die Angewohnheit, ernste Dinge ins Lächerliche zu ziehen. Qaaqqu war zwar normalerweise sehr tolerant, aber das hätte er nicht ertragen und ihre Freundschaft schwer belastet.

Valima war ganz anders. Sie hatte dieses Ritual als einen wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit erkannt und immer respektiert. Nach außen hin wirkte Valima wie eine kühle, berechnende Wissenschaftlerin, die sich mit einer Mauer aus Eis vor den Einflüssen anderer Menschen schützte. Doch hinter dieser Fassade verbarg sich eine andere Seite: eine tiefe Verbindung – nicht zur Natur wie bei Qaaqqu, sondern zur digitalen Welt der künstlichen Intelligenzen. Sie schien den Gesang der Bits und Bytes zu hören und die komplexen Strukturen neuronaler Netze auf eine Art zu durchdringen, die fast übermenschlich wirkte.

Qaaqqu wusste, sie bewunderte seine spirituelle Verbundenheit und beneidete ihn insgeheim darum. Auch sie hatte eine Bestimmung, doch ihr fehlte ein greifbares Symbol wie Nattiq, um ihre Gedanken zu fokussieren. Deshalb hatte Qaaqqu ihr manchmal erlaubt, an seinem Ritual teilzunehmen – als einzigem Menschen überhaupt. Die Erinnerung daran ließ ihn ein Ziehen in der Brust spüren. Er vermisste sie mehr, als er es sich selbst eingestehen wollte.

Mit einem leichten Seufzen übermittelte er Moss die Nachricht über das Neuralinterface: „Einen Moment, Moss. Ich komme gleich.“


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Der Status : Status-Korrektur
Laufende Nummer : 007
Version : V36 250429_1243

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