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Kap.1.9 Kiyoe Schwertübung#
Kiyoe Kobayashi wollte die Besprechung verlassen und überlegte kurz, ob sie mit den anderen Crewmitgliedern über die schrecklichen Nachrichten sprechen sollte. Doch alle gingen schnell in verschiedene Richtungen auseinander, jeder wollte offenbar allein sein. Kiyoe blieb unentschlossen im Raum stehen, ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Bilder des zerstörten Fusionstriebwerks, Sorgen um ihre alten Eltern in Japan, Wut über die Dummheit der Menschheit – all das drängte sich in ihren Kopf. Sie erinnerte sich an die entsetzten Gesichter ihrer Kameraden und stellte sich vor, wie es wäre, für immer antriebslos durchs All zu treiben. Das Bild der weinenden Angelique rührte sie tief und brachte ihr die Tränen in die Augen. Auch sie hätte jetzt die Umarmung eines anderen gebraucht.
Am liebsten wäre Kiyoe zu Lu gelaufen und hätte sich in ihre Arme geworfen. Auch wenn sie sich gerade angegiftet hatten, was bedeutete das schon angesichts der Nachrichten? Lu war zurückhaltend, aber niemals kühl; sie hätte ihr menschliche Wärme geben können. Doch Kiyoe verstand, dass Lu sich jetzt in die Arbeit stürzen musste. Es war ihre Art, sich von den Schrecknissen abzulenken. Kiyoe, als Astronomin und Astrophysikerin, war mit Fusionsprozessen vertraut, doch für Lu als Chefingenieurin der Thjodhild bedeutete die Explosion des Reaktors einen tiefen Schlag für ihr Berufsethos. Lu konnte nicht anders – sie musste den Unfall sofort untersuchen. Kiyoe wusste, dass sie Lu jetzt nicht stören konnte.
Aber was sollte Kiyoe tun? Sie musste ihren Geist klären und das Chaos in ihrem Kopf beruhigen. Als Astronomin hätte sie in die Beobachtungskuppel gehen oder das Teleskop aktivieren können. Sie liebte ihren Beruf, aber jetzt zu arbeiten? Dafür war sie zu aufgewühlt. Doch sie wusste, wie sie ihren Geist zur Ruhe bringen konnte.
Kiyoe ging in ihre Kabine und zog ihren speziellen Trainingsanzug an – einen japanischen Gi und einen schwarzen Hakama, den traditionellen Hosenrock. In dieser Kleidung machte sie sich auf den Weg zu einem der Fitnessräume. Dort entdeckte sie Moss, der verbissen auf dem Laufband trainierte. Das war seine Art, sich abzulenken, das wusste sie, also störte sie ihn nicht. Er war so vertieft, dass er sie gar nicht bemerkte.
Kiyoe ging weiter zur nächsten Gondel: ein Dojo, ein Trainingsraum. Er nahm fast die Hälfte der Gondel ein. Der Boden war mit echten Tatamis ausgelegt. Normalerweise hätte man Schaumstoffmatten verwendet, aber Kiyoe hatte sich stattdessen authentische japanische Reismatten gewünscht. Und manchmal gehen Wünsche in Erfüllung. Tatamis in den Weltraum zu transportieren war unglaublich teuer, doch es fand sich ein Sponsor, dem der kulturelle Beitrag Japans an der Mission wichtig war. So bekam die Thjodhild einen edlen Dojo – eine Quelle der Harmonie und inneren Kraft.
Kiyoe ging zu einer Seite des Dojos und klappte mehrere Sicherungsklappen nach unten. Dahinter kamen Waffenständer mit hölzernen Nahkampfwaffen zum Vorschein. Eine Halterung enthielt mehrere ein Meter zwanzig lange Holzstöcke, die andere Bokken, japanische Holzschwerter. Hinter der dritten Klappe wurde die Kamiza sichtbar – ein schmaler Tisch mit verschiedenen Naturgegenständen, dahinter ein kunstvoll gestaltetes Bild mit den japanischen Schriftzeichen für Aikido.
Kiyoe Kobayashi wurde schon als Kind von ihrem Vater in dieser alten Bewegungskunst unterrichtet. Mit fünfunddreißig Jahren hatte sie inzwischen den 4. Dan im Aikido und galt damit als Meisterin. Sie ließ sich vor der Kamiza im Kniesitz nieder, im sogenannten Seiza.
Kurz vor ihrem ersten Torpor war Elsbeth zu Kiyoe gekommen und hatte sich über diesen Raum verwundert gezeigt.
Elsbeth hatte sich im Dojo umgesehen und gefragt: „Ich habe von solchen Räumen gehört, aber mich immer gefragt, wozu sie gut sind. Kannst du mir das erklären?“
Kiyoe setzte sich im Seiza hin und bedeutete Elsbeth, sich auch auf den Boden zu setzen. „Das ist ein Dojo, ein Raum, in dem die japanische Kampfkunst Aikido gelehrt wird. Die Crew versammelt sich hier mindestens zweimal die Woche, um zu trainieren.“
Elsbeth sagte: „Auf der Jupiter-Station gab es auch so einen Raum. Aber ich habe nie verstanden, warum man im Weltraum einen Kampfsport lernen sollte. Ist das nicht total veraltet? Wir werden doch nie im Weltraum mit Schwertern kämpfen. Wozu also das Ganze?“
Kiyoe lächelte wissend und nickte. „Nein, ganz und gar nicht. Aikido lernen wir weder, um zu kämpfen, noch zur Selbstverteidigung. Es ist auch kein Kampfsport, sondern eine Kampfkunst. Im Sport geht es darum, andere zu übertreffen oder im Zweikampf jemanden zu besiegen. Aikido ist anders – hier kämpft man nur gegen sich selbst, selbst wenn man mit einem Partner übt. Es geht nicht darum, jemanden zu besiegen. Das ist sogar verboten.“
„Aber warum sollte man dann kämpfen lernen, wenn man weder kämpfen muss noch darf? Das ist doch unsinnig. Ich habe gehört, dass es irgendwie das Denken verbessern soll. Aber wie kann man klüger werden, indem man jemandem auf den Kopf schlägt?“
Kiyoe schmunzelte – solche Gespräche hatte sie schon oft geführt. "Das Leben im Weltraum ist für den menschlichen Geist eine Belastung. Keine weite, freie Natur, nur das lebensfeindliche, tödliche All um uns herum. Viele Menschen auf engstem Raum, mit denen man zusammenleben muss, auch wenn man es nicht will. Da ist es schwierig, über längere Zeit eine harmonische Stimmung zu bewahren. Konflikte sind unvermeidlich und neigen dazu, sich aufzuschaukeln."
"Ja, das habe ich oft selbst erlebt. Das kann schlimm enden. Aber wie soll sich das verbessern, wenn man auch noch gegeneinander kämpft? Da werden doch eher die Aggressionen verstärkt."
"Regeln. Aikido ist eine sehr disziplinierte Art des Umgangs miteinander. Am Anfang empfinden viele das als einschränkend, manche sogar als Schikane. Aber mit der Zeit wird es zu einer Stütze, höflich miteinander umzugehen und Konflikte zu vermeiden. Indem man hier immer wieder übt, harmonisch und diszipliniert mit seinem Gegenüber zu trainieren, können Spannungen abgebaut werden. Außerdem hilft die körperliche Betätigung, Aggressionen abzubauen. Alle Teile des Körpers werden gleichmäßig gefordert und bewegt, was gut für die allgemeine Gesundheit ist."
lsbeth sah immer noch zweifelnd aus. "Aber warum muss man dafür kämpfen? Das kann man doch auch einfacher mit anderen Mitteln erreichen."
"Am Anfang kann es sich oft wie ein Kampf anfühlen, aber mit der Zeit ändert sich das völlig. Es gibt viel körperlichen Kontakt zwischen den Übenden. Einige Techniken können, wenn sie falsch ausgeführt werden, große Schmerzen verursachen. Anfänger haben oft das Bedürfnis, sich auszutesten oder den anderen zu besiegen. Aber es ist ein Geben und Nehmen. Keiner will Schmerzen. So entsteht allmählich eine partnerschaftliche Beziehung unter den Teilnehmern. Harmonie entwickelt sich – das ist auch die erste japanische Silbe von Aikido: Ai."
Elsbeth hatte zu Beginn des Gesprächs versucht, sich wie Kiyoe hinzusetzen. Doch jetzt sah Kiyoe, dass die ungewohnte Sitzhaltung für Elsbeth unangenehm wurde. "Ich glaube, diese Haltung bereitet dir Schmerzen. Setz dich doch bequemer hin, sonst kannst du mir gar nicht richtig zuhören." Kiyoe verneigte sich kurz, indem sie im Kniesitz ihre Stirn auf den Boden senkte, und wartete, bis Elsbeth eine angenehmere Position im Schneidersitz gefunden hatte. Dann fuhr sie fort.
"Im Aikido gibt es drei Arten von Bewegungsübungen. Die Erste ist das Training nur mit dem Körper, ohne Waffen – Aikitai. Dabei fassen sich die Trainingspartner an und spüren den Körper und die Energie des anderen. Der Übende lernt, sein Gegenüber ohne Kraft und Schmerzen in eine Position zu bringen, die einen weiteren Kampf unmöglich macht. Die zweite Art sind die Übungen mit dem Holzschwert, Aikiken. Der Aikidoka lernt, sich zu konzentrieren, weil der Körper millimetergenau so positioniert werden muss, dass man nicht getroffen wird oder den Partner mit dem Bokken berührt. Und dann gibt es noch die Übungen mit dem Stock, die einem das Gefühl vermitteln, jemanden auch ohne körperliche Berührung zu führen oder sich führen zu lassen. Dabei lernt man, seinem Gegenüber in der richtigen Distanz entgegenzutreten. All diese Übungen formen mit der Zeit auch den menschlichen Geist und fördern die Harmonie unter den Mannschaftsmitgliedern."
Kiyoe lachte amüsiert. "Also, jemandem harmonisch auf den Kopf zu schlagen, kann dein Denken tatsächlich verbessern."
Kiyoe bemerkte, dass Elsbeth die vielen Informationen nicht mehr richtig aufnehmen konnte. "Aber all das kann man nur nach und nach im Training erspüren. Deshalb hat die Führung beschlossen, Aikido als regelmäßiges Bewegungsprogramm einzuführen. Das ist nicht auf allen Stationen so, besonders nicht in denen anderer politischer Machtbereiche. Aber auf den chinesischen Stationen wird eine ähnliche Kampfkunst praktiziert, die vom Kung-Fu abgeleitet ist. Hier auf der Thjodhild ist es ein Pflichtprogramm, zweimal die Woche. Da du jetzt auch Mitglied der Mannschaft bist, wird Kommandant Ivanir dich ebenfalls einteilen."
Sich an das Gespräch mit Elsbeth zu erinnern, hatte Kiyoe geholfen, sich von den letzten Ereignissen im Besprechungsraum abzulenken und eine aufgeräumte Stimmung zu erzeugen. Sie hatte vorgehabt, jetzt zu meditieren, um ihren Geist zu leeren und zur Ruhe zu kommen. Doch die Sorgen und Befürchtungen begannen, ihre Gedanken wieder zu übermannen. Sie musste ihren Körper bewegen und ihre Gedanken in eine andere Richtung lenken.
Sie verneigte sich vor der Kamiza und stand auf. Vom rechten Waffenständer nahm sie ihr Holzschwert und stellte sich an einer Seite des Raumes auf. Sie begann, ihr Bokken in einer ganz bestimmten, vorgeschriebenen Weise gegen einen imaginären Gegner zu führen – eine Kata. Dabei ging es nicht darum, das Bokken willkürlich zu schwingen, sondern ihren Körper präzise durch den Raum zu bewegen. In ihrem Geist stellte sie sich einen unsichtbaren Sparringspartner vor, der versuchte, sie zu treffen und auszumanövrieren.
Lange übte sie so, bis ihr Körper schweißnass war. Immer wenn sie die Übungen unterbrach und ihre Gedanken wieder zu den schrecklichen Nachrichten abschweiften, begann sie eine neue Kata, bis ihr Geist erschöpft war und ihre Konzentration nachließ. Schließlich setzte sie sich wieder vor die Kamiza und begann zu meditieren. Wenn Gedanken auftauchten und sie plagten, schob sie diese sanft beiseite, bis ihr Geist sich allmählich leerte. Endlich fand sie Ruhe in ihrer Versenkung.
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Kap.1.10 Fastenbrechen