Kap.1.9.1 Harmonie der treibenden Blätter#

2137
Obwohl das Fusionstriebwerk auf voller Leistung lief, waren in der Gondel des Torus keine zusätzlichen Vibrationen oder Geräusche wahrzunehmen. Die üblichen kleinen Betriebsgeräusche und sanften Vibrationen des Schiffes blieben unverändert, als ob das mächtige Triebwerk gar nicht existierte. Nur wer ganz still verharrte und aufmerksam lauschte, konnte ein feines, gleichmäßiges Brummen wahrnehmen – ein leises Echo der riesigen Kräfte, die durch das Schiff flossen. Die magnetische Lagerung des Torus an der Hauptachse der Thjodhild dämpfte die mechanischen Vibrationen des Antriebs fast vollständig.

Morgen würde die Mannschaft sich in die Schlafkapseln für ihren ersten Torpor begeben. Vorher, in den frühen Morgenstunden, sollte die Crew ein letztes Mal in diesem Raum zusammenkommen, um ihre Körper zu stärken und anschließend durch Meditation ihre Gedanken zur Ruhe zu bringen. Kiyoe leitete als sportliche Übungsleiterin und Sensei die Einheit der Forscher, die sich auf dem Weg zum Pluto befanden. Als gebürtige Japanerin hatte sie eine tiefe Verbindung zu dieser Kampfkunst und trug nach jahrzehntelangem Training den 4. Dan im Aikido.

Doch es ging nicht allein um körperliche Fitness – vielmehr um eine stimmige Körperwahrnehmung, um partnerschaftliches Miteinander und vor allem um geistige Balance. Diese Verfassung war entscheidend für das Zusammenleben an Bord – denn auch ein großes Schiff kann sich klein anfühlen, wenn Menschen auf engstem seelischen Raum koexistieren müssen. Kiyoe war dafür bestens geeignet, denn neben ihrer Kampfkunst war sie auch eine erfahrene Meisterin des Zen.

Sie war sich ihrer Verantwortung gegenüber den Crewmitgliedern sehr bewusst. Deshalb verbrachte sie diesen Abend allein in der Stille und Abgeschiedenheit des Raumes. An der Kamiza, dem niedrigen Tisch an der Längsseite der Gondel, schaltete sie eine elektronische Kerze an.

Auf der Kamiza standen außerdem eine frisch gepflückte Orchidee aus dem Wintergarten, drei sorgfältig ausgewählte Steine und ein Seidenschal. Es war kein heiliger Ort oder Altar, sondern vielmehr ein Symbol für die innere Ausrichtung und den Fokus der Übenden.

Kiyoe hatte sich gerade im Seiza, dem klassischen japanischen Kniesitz, vor der Kamiza niedergelassen, als sie das leise Zischen des Schotts zur Nachbargondel hörte. Ohne den Blick von der schlichten Schönheit der Kamiza zu lösen, lauschte sie den Schritten, die plötzlich verstummten. Um nicht unhöflich zu wirken, drehte sie sich schließlich langsam auf den Knien zu dem Besucher um.

Es war Elsbeth, der blinde Passagier, den sie vor Kurzem auf der Thjodhild entdeckt hatten. Obwohl Kiyoe wusste, dass weder die Mission Control noch Kommandant Ivanir über ihre Anwesenheit auf dem Forschungsraumschiff erfreut waren, schenkte sie Elsbeth ein warmes Lächeln.

Elsbeth wirkte erschrocken und zögerte kurz, bevor sie sprach: „Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht stören. Kommandant Ivanir hat mir geraten, mich mit der Thjodhild vertraut zu machen. Aber ich gehe sofort wieder.“

Kiyoe lächelte warm und schüttelte sanft den Kopf. „Nein, bleib ruhig, wenn du möchtest. Du bist hier willkommen.“

Mit einer einladenden Geste deutete sie auf den Raum. „Das ist ein Dojo. Ein Ort, an dem wir die japanische Kampfkunst Aikido üben und zur Ruhe kommen. Hier geht es nicht nur um Bewegung, sondern auch um Meditation und inneren Frieden.“

Elsbeth sah sich im Dojo um und fragte: „Ich habe von solchen Räumen gehört, aber mich immer gefragt, wozu sie gut sind. Ist das irgendetwas Religiöses?“

Kiyoe schüttelte leicht den Kopf und lächelte. „Nein, nichts Religiöses. Ein Dojo ist ein Übungsraum, ein Ort des Lernens und der Selbstentwicklung. Hier üben wir Aikido – keine Religion, sondern eine Kampfkunst. Es geht dabei nicht um Wettkampf oder Aggression, sondern um Harmonie, Kontrolle und Balance, sowohl körperlich als auch geistig.“

Sie deutete auf den Platz vor sich und nickte einladend. „Setz dich doch zu mir. Ich erkläre es dir gern.“ Elsbeth zögerte kurz, kam dann näher und ließ sich vorsichtig vor Kiyoe nieder.

„Die gesamte Crew trifft sich hier mindestens zweimal die Woche zum Training“, erklärte Kiyoe. „Es ist Teil unseres Pflichtprogramms, nicht nur, um körperlich fit zu bleiben, sondern auch, um den Geist zu klären. Im Weltraum ist das besonders wichtig, wo wir über lange Zeit mit denselben Menschen zusammenleben und uns aufeinander einstellen müssen. Aikido hilft uns, Spannungen abzubauen und eine harmonische Gemeinschaft zu bewahren.“

Elsbeth schien Schwierigkeiten zu haben, eine bequeme Sitzposition auf dem Boden zu finden. Während sie sich hin und her bewegte, sagte sie: „Auf der Jupiter-Station gab es auch so einen Raum. Aber ich habe nie verstanden, warum man im Weltraum einen Kampfsport lernen sollte. Ist das nicht total überholt? Wir werden doch nie im Weltraum mit Schwertern kämpfen. Wozu also das Ganze?“

Kiyoe lächelte wissend und nickte. „Nein, ganz und gar nicht. Aikido ist keine Sportart, bei der es um Wettkämpfe geht, sondern eine Kampfkunst. Im Sport versucht man, den Gegner zu übertreffen oder zu besiegen. Im Aikido gibt es keinen solchen Wettstreit. Selbst wenn wir mit einem Partner üben, geht es nicht darum, ihn zu besiegen. Stattdessen arbeiten wir zusammen, um Bewegungen harmonisch auszuführen. Das Ziel ist, den Partner in eine kontrollierte Position zu führen – ohne Aggression, ohne Verletzung, nur mit Technik und Präzision. Es ist ein gemeinsames Üben, kein Gegeneinander.“

„Aber warum sollte man das lernen, wenn man weder kämpfen muss noch darf? Das ergibt doch keinen Sinn. Ich habe gehört, dass es irgendwie das Denken verbessern soll. Aber wie kann man klüger werden, indem man jemandem auf den Kopf schlägt?“

Kiyoe schmunzelte – solche Gespräche hatte sie schon oft geführt. „Das Leben im Weltraum ist für den menschlichen Geist eine Belastung. Keine weite, freie Natur, nur das lebensfeindliche, tödliche All um uns herum. Dazu die immer gleichen Gesichter und Persönlichkeiten, mit denen man über lange Zeit zusammenleben muss – selbst wenn man sich mal aus dem Weg gehen möchte. Da ist es schwierig, über längere Zeit eine harmonische Stimmung zu bewahren. Konflikte sind unvermeidlich und neigen dazu, sich aufzuschaukeln.“

„Ja, das habe ich oft selbst erlebt. Das kann schlimm enden. Aber wie soll sich das verbessern, wenn man auch noch gegeneinander kämpft? Ich meine, da werden doch eher die Aggressionen verstärkt, oder nicht?“

„Regeln. Aikido ist eine sehr disziplinierte Art des Umgangs miteinander. Am Anfang empfinden viele das als einschränkend, manche sogar als Schikane. Aber mit der Zeit wird es zu einer Stütze, höflich miteinander umzugehen und Konflikte zu vermeiden. Indem man hier immer wieder übt, harmonisch und diszipliniert mit seinem Gegenüber zu trainieren, können Spannungen abgebaut werden. Außerdem hilft die körperliche Betätigung, Aggressionen aufzulösen. Alle Teile des Körpers werden gleichmäßig gefordert und bewegt, was gut für die allgemeine Gesundheit ist.“

Elsbeth sah immer noch skeptisch aus. „Aber warum muss man dafür kämpfen? Das könnte man doch auch auf andere Weise erreichen.“

„Am Anfang fühlt es sich tatsächlich oft wie ein Kampf an“, erklärte Kiyoe geduldig. „Doch das ändert sich mit der Zeit. Es gibt viel körperlichen Kontakt zwischen den Übenden, und einige Techniken können, wenn sie falsch ausgeführt werden, wirklich schmerzhaft sein. Viele Anfänger haben anfangs den Drang, sich zu beweisen oder den anderen zu dominieren. Aber Aikido ist ein Geben und Nehmen. Niemand will dem anderen absichtlich Schmerzen zufügen. Durch dieses Zusammenspiel entwickelt sich allmählich eine partnerschaftliche Verbindung zwischen den Teilnehmern. Mit der Zeit entsteht Harmonie – und genau das bedeutet die erste Silbe im Wort Aikido: Ai.“

Elsbeth hatte zu Beginn des Gesprächs versucht, sich wie Kiyoe hinzusetzen. Doch jetzt bemerkte Kiyoe, dass die ungewohnte Haltung für Elsbeth unbequem wurde. „Ich glaube, diese Sitzweise bereitet dir Schmerzen. Mach es dir doch bequemer, sonst kannst du mir gar nicht richtig zuhören.“ Kiyoe verneigte sich kurz, indem sie ihre Stirn im Kniesitz auf den Boden senkte, und wartete, bis Elsbeth eine entspanntere Position gefunden hatte. Dann fuhr sie fort.

„Im Aikido gibt es drei Hauptarten von Bewegungsübungen. Die erste Art ist das Training nur mit dem Körper, ohne Waffen – Aikitai. Dabei greifen sich die Trainingspartner und spüren die Bewegungen und die Energie des anderen. Der Übende lernt, seinen Partner ohne übermäßige Kraft und Schmerzen in eine Position zu bringen, die jeden weiteren Angriff verhindert. Die zweite Art sind Übungen mit dem Holzschwert, Aikiken. Hierbei trainiert der Aikidoka seine Konzentration und präzise Körperhaltung, sodass er weder getroffen wird, noch den Partner mit dem Bokken berührt. Die dritte Art umfasst Übungen mit dem Stock, bei denen man lernt, jemanden auch ohne Berührung zu leiten oder sich leiten zu lassen. Diese Technik schult, dem Gegenüber in der richtigen Distanz zu begegnen. Mit der Zeit formen alle diese Übungen nicht nur den Körper, sondern auch den Geist und fördern die Harmonie innerhalb der Mannschaft.“

„Also, jemandem harmonisch auf den Kopf zu schlagen, kann dein Denken tatsächlich verbessern.“ Kiyoe lachte amüsiert, ein sanfter Ton, der die Stimmung etwas auflockerte.

Sie sah Elsbeth freundlich an, während sie fortfuhr: „Natürlich meine ich das nur im übertragenen Sinne. Es geht darum, den Geist zu schulen und innere Ruhe zu finden. Aikido trainiert nicht nur den Körper, sondern hilft auch, den Geist zu stärken. Und dafür gehört bei uns noch etwas dazu.“ Sie hielt einen Moment inne und suchte Elsbeths Blick. „Wir meditieren und lernen Zen. Weißt du, was Zen-Meditation ausmacht?“

„Nicht wirklich, das machen doch nur Mönche, oder? Also ist es doch irgendwie religiös?“ fragte Elsbeth, ihre Stirn runzelnd.

Kiyoe schüttelte leicht den Kopf und lächelte. „Das denken viele, aber Zen ist eigentlich nicht religiös. Es stimmt, dass Mönche aus verschiedenen Glaubensrichtungen es praktizieren, aber Zen selbst hat nichts mit göttlichem Glauben zu tun. Es ist vielmehr eine Geisteshaltung – eine Übung der Konzentration, um den Geist zu sammeln und zur Ruhe zu bringen. Das kann in vielen Situationen hilfreich sein, nicht nur für Mönche.“

Elsbeth sah Kiyoe zweifelnd an: "OK, nichts Religiöses. Aber wenn ich mich auf etwas konzentriere, kann das ganz schön anstrengend sein, dabei kann ich mich doch nicht entspannen."

Kiyoe lächelte wissend. Die meisten hatten am Anfang Schwierigkeiten, diesen scheinbaren Widerspruch zu begreifen. „Zen ist tatsächlich einfacher, als es klingt – und doch für viele schwer zu meistern. Es bedeutet, im Hier und Jetzt zu sein. Den Geist von unnötigem Ballast zu befreien und die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Es geht nicht um Anstrengung im herkömmlichen Sinn, sondern darum, innerlich loszulassen. Durch diese Haltung findest du Ruhe und erlebst die Welt direkt – ohne dich in Grübeleien oder komplizierten Gedanken zu verlieren.“

Elsbeth dachte einen Moment über die Worte nach. Kiyoe ließ ihr geduldig die Zeit. Dennoch verzog die ältere Frau immer noch zweifelnd das Gesicht: „Hört sich zwar gut an, aber wie kann das durch Konzentration funktionieren?“

„Durch Meditation. Du setzt dich hin, wie ich jetzt, schließt die Augen und lässt deine Gedanken zur Ruhe kommen. Es klingt wie ein Widerspruch, aber es geht nicht um die Art von Konzentration, die du aus dem Alltag kennst – wo du dich auf etwas fokussierst und unter Druck stehst. Im Zen konzentrierst du dich auf etwas Einfaches, Natürliches, wie deinen Atem. Du beobachtest deine Gedanken, lässt sie kommen und ziehen, ohne dich an ihnen festzuhalten. Mit der Zeit beruhigt sich dein Geist, wie eine Wasseroberfläche, die allmählich still wird.“

Sie hielt inne und lächelte sanft. „Es ist, als würdest du auf einen See blicken. Solange das Wasser aufgewühlt ist, kannst du nichts sehen. Aber wenn du still wirst, klärt sich das Wasser, und du kannst bis auf den Grund schauen.“

Elsbeth versuchte sich erneut, wie Kiyoe, in den Seiza zu setzen, doch ihre Bewegungen waren noch steif und ungewohnt. „Also … ich sitze da und tue … nichts?“, fragte sie mit einem skeptischen Unterton.

"Ja, ganz genau. Das ist alles. Du hörst schlicht auf zu denken. Zu Anfang ist das aber nicht so einfach. Aber Gedanken sind wie Blätter, die einen Fluss hinabtreiben. Du hältst sie nicht fest, du beobachtest sie nur."

„Und das soll wirklich klappen? Ich kann es kaum glauben.“

"Das macht nichts. Du wirst es Schritt für Schritt lernen. Hier auf der Thjodhild ist es ein Pflichtprogramm, zweimal die Woche. Das ist nicht auf allen Stationen so, besonders nicht in denen anderer politischer Machtbereiche. Aber auf den chinesischen Stationen wird eine ähnliche Kampfkunst praktiziert, die vom Kung-Fu abgeleitet ist. Da du jetzt auch Mitglied der Mannschaft bist, wird Kommandant Ivanir dich morgen früh ebenfalls einteilen."

„Ich weiß nicht... Er sieht mich nicht als Teil der Mannschaft. Er wird mir das sicher nicht erlauben.“

„Doch das wird passieren, weil ich es ihm sagen werde. Was Sport und Meditation auf diesem Schiff angeht, trage ich die Verantwortung. Er wird sich meiner Bitte nicht widersetzen. Es ist wichtig für unser Zusammenleben und auch für unsere Arbeit. Zen hilft auch dabei, das tägliche Tun in Einklang zu bringen.“

"Für die Arbeit. Man kann doch bei der Arbeit nicht meditieren, das ist doch Quatsch."

Kiyoe lächelte: "Oh, doch. Wenn man Übung darin hat, geht dies sogar hervorragend. Sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren und alle anderen Gedanken beiseitezuschieben, kann sehr erfüllend sein."

Elsbeth scherzte selbstironisch: „Vielleicht bleibe ich besser bei meinem Wischmopp. Der braucht keine Zen-Kunst.“

Kiyoe hielt inne und schmunzelte dann: „Ganz im Gegenteil. Genau da liegt die Kunst. Zen bedeutet, jede Arbeit – egal wie klein oder unscheinbar – mit voller Hingabe und Aufmerksamkeit zu tun. Ein guter Zen-Mönch kehrt den Boden nicht einfach, um ihn sauberzumachen. Er tut es, weil es die perfekte Gelegenheit ist, seinen Geist zu schulen. Der Besen wird in diesem Moment sein bester Lehrer.“

Elsbeth runzelte die Stirn, dachte nach und murmelte: „Also kann ich meinen Wischmopp zu meinem Zen-Meister machen?“

Kiyoe schmunzelte. „Vielleicht ist er das längst, und du hast es nur noch nicht bemerkt.“

Elsbeth sah auf den Boden des Dojos, lächelte leicht und sagte: „Dann brauche ich ja nur hier den Boden zu wischen, und er wird mich lehren, eine Zen-Meisterin zu werden.“ ​



Weiter geht es mit#

Kap.1.10 Fastenbrechen L1

Bemerkungen#

Anmerkung#

REMARK: Anmerkung des Autors zum Text.

Kommentar#

Kommentar

Status#

Der Status : Status-Idee
Laufende Nummer : 40
Version : V22 250510_1438

Lektoren#

TaleScripture-Lektoren